Tal der Tausend Nebel
selbst ihr Entkommen in der Tiefgarage Teil eines perfiden Plans, den sie nicht verstehen konnte, weil sie keine Eingeweihte war. Genau genommen hatte sie auch nach Keanus langen Erklärungen in dieser Nacht nur wenig Ahnung, wogegen oder wofür im Detail von seiner geheimen Organisation gekämpft wurde. Sie verstand natürlich die Wut auf Immobilienspekulanten, die auf den Inseln Hawaiis die Grundstückspreise skrupellos in die Höhe trieben. In Deutschland gab es so etwas auch. Ganze Gegenden wurden zu teuer für Familien mit Kindern oder ältere Leute. Überteuerte Singleghettos nahmen auch in deutschen Städten zu, waren aber kein Grund für Vergewaltigungen und männliche Drohgebärden mit oder ohne Waffen.
»Wollen wir noch zum Essen bleiben? Anela hat uns freundlicherweise eingeladen.«
Stefan küsste sie auf die Stirn. Wie zufällig warf er dabei einen Blick auf die E-Mail, die Maja bekommen hatte. Er überflog die Zeilen kurz und lächelte beruhigt.
»Ich hatte schon Sorge, dass du einen neuen Verehrer hast … Anela hat mir spannende Dinge über ihren Cousin Keanu erzählt … er scheint in seiner Familie ein ziemlicher Held zu sein.«
»Wirklich? Den Eindruck hatte ich nicht unbedingt. Ein Lehrer eben. Aber wir haben uns im Seminar auch hauptsächlich über Bildungspolitik und die neusten pädagogischen Erkenntnisse unterhalten … nicht unbedingt ein Terrain für Helden.«
Maja war bereits dabei, die Münchner Adresse in der E -Mail mit einem Stift auf ein Stück Papier zu kopieren.
»Du willst also hier zum Essen bleiben. Außerdem duzt du Dr. Chang bereits. Wie kommt es? Ist es vielleicht ihre Schönheit, die dich bezaubert?«
Jetzt lächelte Stefan.
»Na ja, vielleicht auch, aber vor allem hat Anela mir das Du angeboten und uns beide zum Essen eingeladen, damit ich ihren Mann persönlich kennenlerne. Wir haben festgestellt, dass ich eins seiner Bücher kenne … Nierentransplantation ist sein Fachgebiet … Beruflich wäre es für mich sehr interessant.«
Maja lächelte und dankte innerlich wem auch immer für die Gnade, am heutigen Abend keine Grundsatzgespräche mit Stefan unter vier Augen führen zu müssen.
»Großartige Idee! Ich helfe beim Kochen!«
Eine Stunde später saßen Maja und Stefan mit Familie Chang am Tisch auf der großen Terrasse unter einem roten Sonnenbaldachin. Es ging um Medizin. Maja langweilte sich ein wenig, aber ihr Freund genoss die Erörterung des Themas sichtlich. Und ein unverfänglicher Familienabend mit entzückenden kleinen Kindern war auch für Maja um vieles besser als ein schwieriger Abend allein mit Stefan und ihrem schlechten Gewissen.
»Ihr habt euch ineinander verliebt, nicht wahr?«
Die Worte kamen ganz unverblümt aus dem sinnlichen Mund, als Maja allein mit Anela nach dem Hauptgang in der Küche war, um ihr mit dem Nachtisch zu helfen. Fern von den Männern konnten sie reden. Maja verstand jetzt auch, warum ihre Gastgeberin sie wirklich eingeladen hatte. Ihr Name Anela war hawaiisch und bedeutet Engel, wie sie Maja erklärte, während sie geschickt Zitronensorbets in kleine Schälchen füllte und mit Himbeeren garnierte. Sie war größtenteils Hawaiianerin, hatte aber eine chinesische Großmutter. Ihr Mann, Dr. Chang, war in China geboren. Anela lächelte weich.
»Aber meine Seele gehört Hawaii. Immer wenn ich Zeit habe, verbringe ich sie dort, auch mit meinen Kindern. Keanu und ich gehören zu einem großen Klan, der sich einmal im Jahr trifft. Sharkpeople, so nennen uns die anderen Klans, im Gegensatz zu den Turtles oder den Owls, also der Schildkrötenfamilie oder dem Eulenklan. Alle Kinder der Haifischfamilie kennen Elisa Vogel …«
Anela sah Maja neugierig an.
»Keanu hat mir erzählt, wie sie zu dir gekommen ist, als du den Zahn von Großvater Hai um den Hals hängen hattest. Warum trägst du keinen hawaiischen Namen, wenn du eine von uns bist? Und warum glaubst du, dass eine Liebe zwischen dir und Keanu keine Chance hat?«
Auf der Rückfahrt nach München schwieg Maja die meiste Zeit und saß auf dem Beifahrersitz. Stefan fuhr ihren Wagen und redete viel über seinen Beruf. Maja musste sich ablenken, um das Unvermeidliche nicht an ihr tiefstes Innerstes heranzulassen. Über hundertfünfzig Tunnel notierte Maja daher zwischen Nizza und München mit kleinen Strichen in ihrem Notizbuch. Es war ein Spiel, das sie mit ihrem Vater immer gespielt hatte, wenn sie im Sommer an die Côte d’Azur gefahren waren. Damals war sie noch ein Kind.
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