Tal der Tausend Nebel
sie aus tiefstem Herzen beneidete. Wie gerne hätte sie dem Kleinen am Bach beim Waschen ein Lied vorgesungen, damit er im kalten Wasser nicht gar so erbärmlich schrie. Aber auch Kelii hatte wenig Mitgefühl für das winzige Baby, wie es Elisa schien.
»Lass ihn nur ordentlich schreien. Das macht ihn gesund. Und tauch ihn auch ruhig kurz mit dem Kopf unter. Das kalte Wasser härtet ab. Babys müssen einiges aushalten, bis sie das erste Mal in ihrem Leben das Licht unserer Sonne sehen. Da sollte man danach mit ihnen auch nicht zu zimperlich umgehen. Das macht einen Jungen sonst nur weich und weinerlich …«
Elisa arbeitete in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft viel auf der kleinen Farm in den Bergen. Mit Keliis Hilfe sorgte sie dafür, dass Nalani sich genug ausruhte und wieder zu Kräften kam, denn Makaio musste dringend das Haus fertigstellen, bevor die Stürme kamen. In der windigen Hütte konnten sie so weit oben in den Bergen nicht mit den kleinen Kindern bleiben.
Die Aufgabengebiete zwischen Männern und Frauen waren streng getrennt. Wochenbett war Frauensache, den Hausbau organisierten die Männer.
Nalani war mehr als froh, als ihr Mann wieder nach draußen konnte, um in den Bergen Bäume zu fällen und weiter an ihrem halbfertigen Haus zu bauen. Sie zwinkerte Elisa zu.
»Männer sollten nicht zu viel über unsere Angelegenheiten wissen, sonst wollen sie nachts nicht mehr unser Lager teilen. Auch mögen sie es nicht, uns Frauen schwach zu erleben. Es verunsichert einen Mann zu sehr … und was will eine Frau mit einem unsicheren Mann in ihrem Lager?«
Wieder dieses Lachen, das Elisa nicht einordnen konnte. Sie nickte, lächelte und half bei allem, was im Wochenbett anfiel. Dabei überspielte sie ihre Unsicherheit, so gut es ging, obwohl sie zu gerne einige Fragen gestellt hätte. Ob es Nalani wirklich Freude machte, das Lager mit Makaio zu teilen? Oder spielte sie Elisa bloß etwas vor? Waren Frauen, die Jungs zur Welt brachten, vielleicht glücklicher als die Mütter von Mädchen?
Nalani machte es Elisa auch in den kommenden Tagen leicht. Sie war froh, Hilfe zu haben und auf ihrem Lager bleiben zu können. Elisa sorgte für das Essen und beschäftigte die drei kleinen Jungs. Einmal am Tag badete sie auch den lebhaften Vierjährigen und seine gutmütigen dreijährigen Zwillingsbrüder im Bach, wobei alle drei vor Vergnügen quietschten. Es waren glückliche Kinder. Frei und wild wuchsen sie auf. Den größten Teil des Tages spielten sie im Wald miteinander. Elisa sah sie nur, wenn sie Hunger hatten oder einer von ihnen sich wehgetan hatte, sonst gingen sie ganz in ihren kleinen Abenteuern auf.
Elisa liebte es zuzuhören, wenn Nalani ihren Jungs abends alte hawaiische Weisen vorsang. Seit sie nicht mehr sprechen konnte, reagierte Elisas Gehör feiner und aufmerksamer auf stimmliche Nuancen. Jetzt lauschte sie gebannt den uralten Texten der Lieder. Viele erzählten von Manu, den Verwandten im Meer. Die Haifische wachten über ihre menschlichen Brüder und Schwestern an Land. Sie schickten ihnen heilende Träume und gutes Mana für das Glück ihrer Familien.
Aus der Stimme von Keliis Cousine hörte Elisa eine mütterliche Zärtlichkeit heraus, die sie in der Tiefe ihres Herzens berührte. Sie musste an ihre eigene Mutter denken.
Inzwischen hatte Clementia Vogel von Johannes erfahren, dass Elisa lebte. Unter Tränen war sie zusammengebrochen und hatte sich viele Stunden in ihr Zimmer eingeschlossen. Doch als sie wieder herauskam, hatte sie Johannes geschworen, Elisa nie zu verraten. Sie verstand, dass ihre Tochter nach ihrem furchtbaren Erlebnis bei Kelii bleiben wollte, auch wenn es ihr anfangs schwerfiel. Zeit ihres Lebens würde Clementia Vogel immer nur vom Freund ihrer Tochter sprechen. Das Wort Ehemann brachte sie bis zu ihrem Tod nicht über die Lippen. Die Schande war zu groß.
Sie hatte ihrer Tochter ein kleines Briefchen geschrieben. Elisa trug es in einem Lederbeutel an ihrem Gürtel. Wann immer sie Sehnsucht nach ihrer Mutter hatte, las sie die tröstlichen Worte.
Du bist mein Licht, meine Vergangenheit und meine Zukunft, Elisa. Verzeih mir bitte meine Dummheit. Wie konnte ich nur Deinem Onkel vertrauen!
Von nun an werde ich nur noch für unser Wiedersehen leben.
Deine Dich über alles liebende Mutter
Von Johannes hatte Elisa erfahren, dass ihre Mutter einen Heiratsantrag vom alten Fried angenommen hatte. Sie würde von nun an bei ihm leben, zusammen mit seinen hawaiischen Geliebten.
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