Tal der Tausend Nebel
Kuss gegeben hatte. Maja merkte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, obwohl sie kein bisschen traurig war. Zu Hause, dachte sie, auch wenn es verrückt ist, ich fühle mich bei Keanu zu Hause.
16. Kapitel
Hawaiian Islands, Jahreswende 2011
Mit dem kleinen Flugzeug ist es wirklich nur ein Katzensprung von Oahu nach Kauai, dachte Maja erstaunt. Und dennoch konnte sie von oben sehr gut sehen, wie verloren die sieben hawaiischen Inseln inmitten des grenzenlos scheinenden Blaus der Südsee lagen. Heftige Winde zerrten an der kleinen Propellermaschine, und Maja schnallte ihren Gurt fester, um in ihrem Sitz nicht zu stark auf und nieder zu hüpfen. Das windige Wetter war nicht weiter ungewöhnlich für diese Jahreszeit, versicherte der Pilot. Wenn die Inseln Hawaiis von Überschwemmungen oder heftigen Stürmen heimgesucht wurden, dann eher im Winter.
Mein Baby wird es schon nicht weiter übel nehmen, hoffte Maja mit einem Mal leicht beunruhigt. Zwar war sie bereits in der fünfzehnten Woche, und ihre Gynäkologin hatte ihr versichert, dass sie wieder fliegen durfte, aber sie hatte dabei vielleicht nicht unbedingt einen Sturmritt auf den wilden Luftwirbeln über der Südsee gemeint. Andererseits hatte Maja den langen Flug von Deutschland über Los Angeles nach Honolulu sehr gut überstanden. Nicht einmal schlecht war ihr gewesen. Aber sie war auch nicht allein. Ihr fürsorglicher Vater hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen.
Mit einem Lächeln dachte Maja an die guten Ratschläge, die er ihr am Honolulu Airport mit auf den Weg gegeben hatte. Max Kemper machte sich trotz allem Sorgen um seine Jüngste, das war ihr bei seiner Umarmung zum Abschied klar geworden. Er hatte Bedenken wegen ihres ersten Treffens mit Keanu auf Kauai. Dabei hatte ihr Vater sie in den vergangenen Monaten in jeder ihrer Entscheidungen tatkräftig unterstützt. Im Gegensatz zu Majas Mutter freute Max sich vom ersten Moment an auf sein Enkelkind mit hawaiischen Wurzeln.
»Mit oder ohne Vater, das ist erst einmal Nebensache. Hauptsache, dein Baby kommt gesund zur Welt, und du kommst damit klar, dass du die Verantwortung für das Kind zum Großteil allein tragen wirst …«
Auch hatte er Maja nicht widersprochen, als sie sich von Stefan trennen wollte. Sein Lächeln schien sogar zufrieden.
»Stefan ist nett, aber er würde leider besser zu deiner Mutter passen als zu dir …«
Für diesen Satz musste Maja ihren Vater spontan umarmen, denn Max drückte einfach aus, wie es sich auch für sie angefühlt hatte. Stefan liebte ein Idealbild von Maja, eines, das auch ihre Mutter immer von ihr gehabt hatte. Maja wollte und konnte diesem Bild aber gar nicht entsprechen. Nur ihrem Vater vertraute sie ihre intimsten Gedanken an, als sie an diesem denkwürdigen Wochenende lange im Englischen Garten spazieren gingen.
»Eigentlich mag ich noch nicht einmal, was Mama und Stefan beruflich machen. Schulmedizin macht mir Angst. Ich glaube, ich bin eher die Homöopathie- und Gesundbeten-Abteilung. Ich weiß, Stefan verdient gutes Geld … und auch vor Mama habe ich größten Respekt. Ich meine, wie oft bin ich dafür bewundert worden, dass meine Mutter die Chefärztin einer vorbildlichen Herzklinik ist. Sie hilft vielen Menschen … Aber oft frage ich mich, warum bei uns überhaupt so viele Menschen Probleme mit ihrem Herzen haben. Liegt es nicht auch an der Kälte in unserer Gesellschaft? So viele Menschen bei uns sind einsam, gerade auch im Alter. Ich glaube nicht, dass die Schulmedizin darauf eine Antwort hat.«
Ihr Vater sagte nichts. Er lächelte still vor sich hin, während die Herbstblätter um sie herum leise zu Boden fielen. Der graue Himmel, der viele Monate trübes Winterwetter ankündigte, ließ beide ihren eigenen Gedanken nachgehen. Maja und ihr Vater waren in ihrer Familie diejenigen, die jeden Winter mindestens eine Woche in die Sonne fliehen mussten, um sich bei Laune zu halten. Der Rest der Kempers kannte so etwas wie eine Winterdepression nicht.
Über Majas Bitte, vorübergehend wieder in ihr altes Zimmer im Haus einziehen zu dürfen, bis sie einen Lebensplan mit ihrem Kind hatte, freute sich ihr Vater sichtlich. Er versprach, die Einzelheiten mit seiner Frau zu regeln.
Die beiden Monate bis Weihnachten hatte Max mit seiner Jüngsten ausgiebig genossen. Sie war seine einzige Komplizin in einer Angelegenheit, die Max sogar vor seiner Frau verborgen hielt: das Grundstück auf Kauai.
Am Weihnachtsabend hatten sie die
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