Tal der Tausend Nebel
anders überlegen.«
Auch Maja war jetzt vom Boden aufgestanden.
»Sprich mit deiner Mutter darüber. Bei euch oben in Bonn, da hast du doch noch deine Exfreundin Tanja. Ist sie nicht erfolgreiche Ärztin und findet keinen Mann? Vielleicht solltet ihr beide mal wieder miteinander ins Bett gehen …?«
Stefan wurde wütend.
»Hör auf mit dem kindischen Mist!«
Aber jetzt war es Maja, die ungehalten wurde, auch, weil sie sich ihm gegenüber schrecklich hilflos fühlte. Sie zischte ihn wütend an.
»Es ist für mich genauso schwer … Ich bin völlig durcheinander! Das bin ich nicht gewohnt. Ich wusste bisher immer, was ich gefühlt habe …«
Sie sah ihn flehend an.
»Es ist nur so … ich muss allein sein, um für mich ganz sicher zu wissen, ob ich dich noch liebe.«
Stefan ließ seine Arme sinken. Mit einem Mal sah er aus wie ein Boxer, der einen langen Kampf verloren hatte. Er tat Maja leid. Aber es gab nichts, was sie ihm hätte sagen können, außer vielleicht, dass ihr bisheriges Leben irgendwie in Nizza aufgehört hatte zu existieren.
Am nächsten Tag war Maja endlich allein in der gemeinsamen Wohnung. Stefan war übers Wochenende nach Bonn gefahren. Seine Mutter feierte immerhin einen runden Geburtstag. Sie bedauerte am Telefon mehrfach, dass Maja nicht mit Stefan mitkommen würde.
Bis zum Abend wartete Maja, weil sie zu viel Angst vor der Wahrheit hatte. Aber es waren sechs Wochen seit ihrer letzten Periode. Da sie ein Kind mit Stefan wollte, hatte sie die Pille schon vor Monaten abgesetzt.
Maja holte die Schachtel mit den Briefen und dem Schwangerschaftstest aus ihrem Versteck. Keanu und sie waren völlig verantwortungslos gewesen. Nicht einmal der Gedanke an ein Kondom hatte ihr fiebriges Verlangen durchkreuzt. Es konnte also sein. Aber zunächst machte Maja sich daran, Keanus Briefe zu öffnen, schön der Reihenfolge nach. Sie redete sich dabei ein, dass ihre Gefühle für ihn auf ein erträgliches Maß geschrumpft waren. Sie würde mit allem umgehen können, mit allem, was er über die Ozeane in ihre Richtung geschickt hatte.
Schließlich lagen seine Briefe auf dem Boden ihres Zimmers ausgebreitet vor ihr. Manche waren eng mit der Hand beschriebene Briefbögen, andere eine kleine Zeichnung oder ein paar Zeilen eines Gedichtes. Ihre Reise zu Keanu konnte beginnen. Doch etwas stimmte noch nicht. Schnell stand Maja noch einmal auf. Sie holte Keanus Haifischzahn aus einem anderen Versteck. In dem Reisebeutel für Waschzeug hatte der Zahn gelegen, um bei Stefan keinen Verdacht zu erwecken.
Feierlich legte Maja sich den Haifischzahn um. Sie hatte mit sich einen Pakt geschlossen. Dies würde ihr letzter Tag mit Keanu sein, wenn sie Glück im Unglück gehabt hatte. Und davon ging sie aus. Der Schwangerschaftstest war eigentlich eine überflüssige Geldausgabe, wie sie sich einredete. Er würde gewiss negativ ausfallen.
Nach dem heutigen Tag musste Maja alle zwanzig Briefe von Keanu verbrennen. Den Haifischzahn würde sie an Malika schicken. Aber auch Keanus Cousine würde sie zunächst einmal nicht wiedersehen. Sie brauchte eine Zeit der völligen Entwöhnung, um in ihr altes Leben zurückzufinden. Doch Majas Pakt galt nur, wenn …
Kurz darauf hatte Maja die Gewissheit eines Tests, der als fast hundert Prozent zuverlässig galt. Das Resultat sank in jede einzelne ihrer erstaunten Poren. Es war geschehen. Maja trug ein Stück von Keanu in sich und empfand – Freude.
Eine neue Maja saß zwischen zwanzig Briefen, in sorgfältiger Handschrift verfasst. Jeder einzelne war Zeugnis von Keanus Liebe, oder, wie Maja sich ermahnte, was dieser Mann sonst für sie empfinden mochte. Sie kannten sich nur kurz, und vielleicht war es lediglich Begierde.
In einem seiner Briefe fand sie ein wenig Sand. In vier von ihnen waren gepresste Blüten. Einer war auf der Rückseite geschmückt mit einer Zeichnung: ein kleines Farmhaus weit oben in den Bergen von Oahu, wie er schrieb. Dort machte Keanu gerade ein paar Tage Ferien bei seiner Tutu, einer seiner geliebten Großmütter. Er schrieb von einem gigantischen Koa-Baum an der Lanai, vom dem aus er das Meer sehen konnte, wenn er an Maja dachte.
Seit sie sich von Keanu in Nizza verabschiedet hatte, war genug Zeit vergangen, sodass sie ein wenig Abstand gewonnen hatte. Das dachte sie zumindest und versuchte ihr heftig klopfendes Herz zu beruhigen. Es waren genau vier Wochen, sechs Tage, elf Stunden und zweiunddreißig Minuten vergangen, seit Keanu ihr den letzten
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