Tal der Tausend Nebel
ein Tag, eine Ewigkeit. Dennoch war es für Maja, als hätten sie sich nie getrennt. Nachdem er ihr den Lei um den Hals gehängt hatte, griff er in seine Brusttasche und reichte ihr zwei Karten.
»Für den Hibiskus-Ball. Ich habe für deinen Vater auch eine besorgt. Falls er rechtzeitig kommt …«
Sie nickte. Sprechen konnte sie nicht. Dann fuhr er los. Er drückte ihr einen Prospekt über grüne Energie auf Hawaii in die Hand und erzählte von Freunden, mit denen er sich gerade in der Energiepolitik engagierte, wenn er nicht unterrichtete. Seine Stimme war weich wie Samt.
Um ihn nicht andauernd anzustarren, weil er sogar noch besser aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte, sah Maja aus dem Fenster. Es war unwirklich für sie, auf der Insel zu sein, von der sie so viel geträumt hatte. Elisas Zeit lag lange zurück, aber das weiche Grün der Täler, das sich den Berg hinaufzog, hatte sich nicht verändert. Die Wolken in den Farben Dunkelgrau bis Schneeweiß schienen schneller als anderswo auf der Welt über den Himmel zu ziehen. Die vom vielen Regen sauber gewaschenen großen Blätter der Gummibäume glänzten um die Wette. Zweiundzwanzig verschiedene Worte für Regen kannte die hawaiische Sprache, schoss es ihr durch den Kopf.
Keanu warf ihr einen neugierigen Blick zu, während er zügig auf Lihue zufuhr. »Du trägst ihn also um den Hals …«
Sie wusste sofort, dass er den Haifischzahn meinte. Er musste sein Lederband erkannt haben, der Zahn selber war unter ihrem Kleid und ihrer Lederjacke verborgen. Sie nickte und zog umständlich unter dem Gurt die Jacke aus, weil ihr in der Sonne zu warm wurde.
»War er ein Geschenk oder hast du ihn vergessen?«
»Was glaubst du?«
Wieder lächelte er, aber sie hatte einen Kloß im Hals. Mit dem Zahn von Großvater Hai hatte alles angefangen. Seine Stimme war jetzt ernst.
»Du solltest ihn immer tragen, jeden Tag, wenn es geht. Der Zahn hat gutes Mana, wie wir hier sagen. Er wird dich beschützen. Ich habe ihn mit Absicht bei dir zurückgelassen. Das weißt du, oder? Das war kein Versehen …«
»Und unsere Affäre in Nizza? Was hat sie dir bedeutet?«
Maja hätte sich auf die Zunge beißen können, denn sie wollte nicht darüber sprechen. Doch jetzt war es zu spät. Er schenkte ihr einen kurzen besorgten Seitenblick.
»Ich verstehe dich nicht. Du hattest mir gesagt, dass du in Deutschland bald heiraten wolltest. Wenn ich dich in eine schwierige Situation gebracht habe, dann tut es mir leid. Ich musste dir diese Briefe schreiben. Ich bin … ich bin … einfach meinem Gefühl gefolgt. Vielleicht war es wegen deiner Verbindung zu Elisa … Ich habe noch nie eine Traumgängerin getroffen. Ich spürte eine ganz starke Verbindung. Das war es, was ich in Nizza gefühlt habe und auch während all der Wochen danach …«
Maja schwieg, obwohl sie tausend Fragen an ihn gehabt hätte. Zum Beispiel hätte es sie interessiert, ob Keanu seiner Freundin je von ihrer kleinen Episode erzählt hatte. Auch hätte sie gerne gewusst, was genau eine Traumgängerin war, wenn sie auch wenigstens eine ungefähre Ahnung hatte. Aber sie sagte gar nichts. Ihr Schweigen mochte zwar verlogen sein, aber es war eine sichere Höhle gegen die Versuchung, ihm von dem Kind zu erzählen. Was hatte ihr Vater ihr beim Abschied zugeflüstert: Manche Dinge im Leben muss ein Mensch mit sich allein austragen.
Sie bogen in eine Straße, die zum Hafen von Lihue führte. Schon von Ferne sah Maja das rote Haus neben der Kaimauer. Es überragte die Geschäfte und Cafés in den neueren Gebäuden. Es wirkte nicht einladend auf Besucher, sondern sah heruntergekommen aus.
»Das ist unser zweiter Sieg in diesem Jahr. Wir haben das rote Hafenhaus zurückbekommen!«
Keanu parkte direkt davor. Er bat Maja auszusteigen und einen Moment mit hineinzukommen. Neugierig musterte sie das alte fleckige Messingschild neben der Eingangstür: Red House of Lihue, Home for Local Orphan Girls.
Maja erstarrte. Es war das Haus, in dem zu Elisas Zeit arme Mädchen gegen Essen im Namen Christi ihre Körper zur Verfügung stellen mussten, um nicht zu verhungern. Dieser Ort des Grauens existierte also noch?
Keanu zückte einen Schlüssel, der ebenfalls aus einer anderen Zeit zu stammen schien. Er sperrte eine schwere Holztür auf, die schief in den Angeln hing.
»Ich muss hier ein paar Dinge ausladen. Gleich danach geht es weiter. Wir haben dieses Haus nach langem Kampf vor ein paar Wochen endlich von der Regierung zur Verfügung
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