Tal der Tausend Nebel
ihrer Mutter verhindern können. Clementia Vogel war jetzt die Besitzerin eines der profitabelsten Grundstücke auf Kauai, obwohl Janson durch das Kind ebenfalls Ansprüche angemeldet hatte. Victoria war, ebenfalls offiziell, Elisas und Gerits Tochter und damit ebenfalls als Erbin benannt.
»Victoria! Komm her, mein Schätzchen, komm zu deiner Großmama und lass dich küssen!«
Alles an Clementia strahlte vor Glück, als die Kleine auf sie zurannte.
»Großmama, Großmama … ich habe meine Mama gesehen!«
»So, mein Schatz, hast du das?«
Elisa hielt vor Schreck den Atem an. Ihre Mutter hatte bereits begonnen, sich diskret umzusehen. Janson und Dole waren mit ihren Zigarren beschäftigt, sodass Großmama und Enkelin ungestört miteinander flüstern konnten. Wieder wanderten Clementias Augen durch den Saal, bis hin zu dem Vorhang, hinter dem Elisa stand. Schnell zog Elisa sich zurück. Ihre Mutter wusste es vielleicht doch, oder aber sie glaubte den Worten des Kindes. Doch nichts geschah.
Elisa spähte erneut hinter dem Vorhang hervor und sah, wie ihre Mutter sich in aller Seelenruhe setzte. Victoria kletterte auf ihren Schoß und drückte ein Küsschen auf Clementias glühende Wangen. Doch dann sagte sie es erneut.
»Ich habe meine Mutter gesehen … Elisa, die Frau auf dem Foto. Sie steht dort hinten, hinter dem Vorhang, zusammen mit einem braunen Mann und einem kleinen braunen Jungen. Und meine Mutter hat gar keine Schuhe an …«
Clementia lachte. Die beiden Männer stimmten jetzt mit ein. Dann kam auch Fried, um die kleine Prinzessin zur Begrüßung zu küssen. Auf die Worte der Kleinen ging nur ihre Mutter ein. Sie legte ihren Finger über die Lippen, um ihrer Enkelin zu signalisieren, dass sie besser schweigen sollte.
Elisa konnte hinter ihrem Vorhang fühlen, wie ein Teil von ihr in diesem Moment zu Eis wurde. Sie fühlte sich betrogen und gleichzeitig auf grauenhafte Weise entblößt. Ihre eigene Mutter kam noch nicht einmal, um nachzusehen, ob Elisa nach fünf Jahren nach Kauai zurückgekehrt war. Lag es daran, dass sie ihr Kind weggegeben hatte, um mit ihrem Liebsten zu leben? Das musste es sein. Elisa war in den Augen ihrer Mutter ein Ungeheuer, die kranke Irre, die mit einem Kanaka leben musste, für dessen Liebe sie eine gute Partie wie Gerit Janson verschmäht hatte. Ihr ganzer Niedergang war einzig und allein ihre Schuld.
»Victoria!«
Ein kleiner Junge stürmte durch den Saal. In seinem Matrosenanzug, die Haare brav gescheitelt, die Füße in Lackschuhen, sah der sechsjährige Thomas entzückend aus. Er war ein sehr heller hawaiischer Junge. Von seinem deutschen Vater hatte er die hohe Stirn und die längliche Kopfform geerbt. Leilanis und Johannes’ Sohn war ein Augenschmaus, so wie auch seine kleine Schwester, die ihm tapsig folgte. Leilanis Tochter hieß Elisabeth, wie Elisa von Johannes erfahren hatte.
Atemberaubend schön war Leilani in ihrem türkisen Kleid, geschmückt mit wertvollen weißen Perlen auf einem festlichen Haarreif in einer aufwendigen Hochsteckfrisur. Es gab bestimmt keinen einzigen Mann im Festsaal von Lihue, der Johannes in diesem Moment nicht um seine reizvolle exotische Frau mit der Haltung einer Königin beneidete. Die junge Hawaiianerin, die hoch erhobenen Hauptes erschienen war, strahlte eine Selbstsicherheit und Grazie aus, von der Elisa nur träumen konnte. Aber war das hier noch ihre Welt? Den Prunk für den jährlichen Hibiskus-Ball verdienten kleine traurige Mädchen in einem Haus, in dem sie wie Tiere gehalten wurden. Nie würde Elisa vergessen können, was Johannes ihr einst über den Hibiskus-Ball erzählt hatte. Und jetzt gehörte er selber dazu.
Elisa lächelte traurig bei dem Anblick des schönen gemischten Paares, das anmutig über die Tanzfläche schwebte. Leilani verstieß nicht gegen das geltende Gesetz. Ein weißer Mann konnte zur Frau nehmen, wen er wollte. Sie flüsterte Kelii ins Ohr, dass es besser für sie sei, diesen Ort zu verlassen und nicht zu warten, bis sie vielleicht doch noch entdeckt wurden. Es wäre zu beschämend, denn Elisa trug ja tatsächlich noch nicht einmal Schuhe. Ihr letztes Paar war in den Bergen von Maui kaputt gegangen.
Doch gerade, als Elisa gehen wollte, öffnete sich einen kleinen Moment der Vorhang zu ihrem Versteck.
»Nimm das … und geh mit meinem Segen, mein Kind.«
In den Augen ihrer Mutter glänzten Tränen, als sie ihrer Tochter mit schnellem Griff ihr schwarzes Perlenkollier zusteckte. Dann fiel der
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