Tal der Tausend Nebel
so schüttelte. Spontan wollte sie ihm etwas Gemeines zurufen, etwas, das ihn vertreiben würde, aber ihre sonst so flinke Zunge war plötzlich wie gelähmt.
Diese Situation durfte einfach nicht sein. Und vor allem wusste sie nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie musste sich anziehen. Aber wenn sie ihm dabei den Rücken zuwenden würde, dann könnte er ihr nacktes Hinterteil sehen. Das war vielleicht noch schlimmer als ihre von den Haaren halbwegs verdeckten kecken Brüste und ihre Scham. Immerhin lag ihr größtes Tabu gut versteckt hinter ihrem golden gelockten Dreieck verborgen. Den Begriff tabu verstand ihr Freund, denn auch in seiner Welt war vieles tabu, vor allem wenn es die geheimen Riten der Frauen anging. Trotzdem hörte sie Kelii immer noch belustigt lachen, als hätte sie einen besonders amüsanten Witz erzählt. Dann begann er zu sprechen.
»Deine Haut für mich ist nicht tabu, Elisa. In vielen Nächten ich habe gesehen – deine Bein, deine Wunde. Ich habe verbunden mit Medizin. Ich habe gewaschen – dein Tabu. Warum jetzt so scheu?«
Natürlich hatte Kelii recht. Er war eine Zeit lang jede Nacht gekommen, hatte ihr geschwollenes Bein sanft mit wohlriechenden Kräutern massiert, ihre Wunde neu versorgt und verbunden, damit das Fleisch an den Wundrändern nicht anfing zu faulen. Er hatte dabei viel von ihr gesehen, zu viel, und ihr einmal sogar auf die Bettpfanne geholfen. Auch gewaschen hatte er sie an dieser Stelle. Eine schreckliche Vorstellung, dachte Elisa im Nachhinein, aber sie war in ihrem Fieber völlig hilflos gewesen. Und der bittere Trank aus der Heilpflanze, den er Elisa Nacht für Nacht mit sanften Gurrlauten eingeflößt hatte, um ihr Bein zu retten, ließ die Nieren rebellieren.
Diese Zeit in ihrem Leben wollte sie inzwischen am liebsten vergessen, denn nichts davon war schicklich gewesen. Am schlimmsten waren die Lügen, die Elisa ihrer Mutter aufgetischt hatte, wenn sie nach der seltsamen Tinktur fragte, mit denen mysteriöserweise der Verband an Elisas Bein jeden Morgen aufs Neue durchtränkt war. Um den bohrenden Fragen zu entgehen, hatte sie schließlich eine namenlose Hawaiianerin erfunden, die angeblich nachts immer kam, wenn Elisa alleine war, um ihr Bein anzusehen. Das Phänomen dieser heimlichen Wohltäterin war danach ausgiebig im Familienkreis besprochen worden.
In diesem Kontext hatte Elisa das Wort Kahuna zum ersten Mal gehört. Ein Kahuna war für die Kanaka der Ersatz für einen richtigen Arzt, erklärte ihr der Onkel. Elisa wusste es jedoch durch Kelii bald besser. Ein Kahuna war sehr viel mehr als nur ein Arzt. Das Wort stehe nicht nur für einen Heiler oder eine Heilerin in der kulturellen Tradition, sondern die Kahuna waren auch für die Seelsorge ihres Dorfes zuständig, für die Rituale und Feste. Manche von ihnen standen in dem Ruf, Magier und Schamanen zu sein. Es gab inzwischen einige Kahuna, die mehr als gefürchtet waren, vor allem von Plantagenbesitzern. Ihre Namen wurden auf schwarze Listen gesetzt.
Zu dritt hatten die Männer Elisa schließlich wegen der geheimnisvollen Kahuna verhört, die sie erfunden hatte, um ihren neuen Freund zu schützen. Sobald es ihrem Bein besser ging, kamen ihr Onkel, Herr van Ween und der Doktor zu Besuch. Sie saßen um ihr Bett herum und stellten jede Menge Fragen. Elisa blieb bei ihrer erfundenen Geschichte und bat sogar darum, dass die Tür zum Garten von da an nachts extra nur angelehnt würde, um ihrer Retterin das Hereinkommen zu erleichtern. Der Onkel nickte. Die Heilung von Elisas Bein, darauf bestand er, hatte absolute Priorität. Dieser geheimnisvollen Kahuna würde nichts geschehen, wer auch immer sie sei. Auch der Doktor, der mit Elisas Verletzung völlig überfordert gewesen war, nickte. Die Amputation von Elisas Bein zu verhindern, indem die Entzündung völlig abheilte, das war das Ziel. Immerhin hatte Elisas Onkel große Pläne mit der zukünftigen Vermählung seiner Nichte und mit nur einem Bein würde sie als Braut nicht vermittelbar sein.
»Wo ist dein Kopf?«, rief Kelii ihr mit einem Mal vom Baum aus zu, »Schlafmütze!«
Elisa löste sich aus ihrer Erstarrung. Seit ihrem Unfall geschah es öfter, dass sie urplötzlich in Gedanken versank. Selber merkte sie es nicht, dass bisweilen sogar eine ganze Minute verstrich, in der sie einfach nur in die Ferne starrte und alles um sich herum vergaß.
»Bist du wieder da, Elisa?«
»Ja … ich musste an die vielen Nächte denken, in denen du mir mit meinem
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