Tal der Tausend Nebel
denn das junge Hausmädchen weinte. Er polterte Elisa entgegen.
»Warum kommst du so spät? Du weißt doch, dass die jungen Mädchen völlig überfordert mit unseren Töchtern sind. Hildegard wäre beinahe unter die Kutschräder gekommen …«
Ihr Onkel war mehr als ungehalten, sodass Elisa sich zunächst einmal entschuldigte, aber dann erklärte, dass sie Katharina noch eine Medizin gegen ihre schlimme Migräne verabreicht hatte. Der Onkel nickte und gab Elisa ebenfalls genaue Instruktionen für den Tag mit den kleinen Mädchen.
»Malen, Musizieren und zwischendurch ein wenig frische Luft, so wünscht es meine Frau.«
Elisa nickte, denn diese Anweisungen hatte sie bereits von Katharina bekommen.
Dann verabschiedete sich ihr Onkel bis zum Abendessen mit weiteren Instruktionen für Amala. Als er endlich weg war, tröstete Elisa zunächst das weinende Hausmädchen. Sie kannte die Kleine aus Keliis Dorf und fand schnell die richtigen Worte. Danach schickte sie Amala mit ihren hungrigen Cousinen zunächst in die Küche, um die Kinder vor dem Unterricht zu stärken. Elisa selber wollte inzwischen das Malzeug für den Unterricht holen und eilte los.
Auf dem Hof vor dem Haupthaus war allerlei Betrieb. Eine Ladung Zuckerrohr wurde von den Arbeitern zum Abtransport mit dem Pferdewagen fertig gemacht. Weitere Arbeiter, mit schweren Säcken beladen, kamen aus Richtung der Lagerhäuser. Elisa grüßte alle mit den Augen und winzigen Gesten, die nicht verrieten, dass sie viele von ihnen näher kannte. Aber durch ihre Besuche in Keliis Dorf kannte sie inzwischen fast jedes Gesicht und jeden Namen. Sie konnte die Familien einander zuordnen, denn viele der Frauen und Töchter der Plantagenarbeiter arbeiteten im Haus oder in den Wirtschaftsräumen. Besonders einige der jungen Mädchen, manche nicht älter als zwölf, hatte sie inzwischen ins Herz geschlossen.
»Elisa? Sind Sie es wirklich?«
Sie hielt mitten im Schritt inne. Aus dem Kontor kam Johannes van Ween. Er strahlte über das ganze Gesicht als er ihr die letzten Schritte entgegenkam und vor ihr stehen blieb.
»Nicht zu fassen, wie phantastisch Sie aussehen! Meine Mutter hat mit keinem Wort übertrieben. Man könnte fast meinen, dass der kleine Zusammenstoß mit dem Hai Ihnen nichts anhaben konnte. Erinnern Sie sich an die letzten fiebrigen Worte, die Sie mir zugeflüstert haben, bevor ich zum Studium nach San Francisco musste?«
Elisa schüttelte erstaunt den Kopf: »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie überhaupt zu mir gesprochen haben. Aber ehrlich gesagt habe ich nur sehr wenig Erinnerung an die ersten Tage nach meinem … meinem Unfall. Aber wie kommt es, dass Sie schon wieder hier sind? Ich dachte, Sie hatten vor, noch bis zum Winter Ihren Studien nachzugehen?«
Johannes nickte, zwinkerte Elisa aber dann gut gelaunt an: »Die Sehnsucht hat mich getrieben. Immerhin haben Sie mir im Fieberrausch das Versprechen gegeben, dass wir miteinander tanzen würden, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen.«
»Wirklich?«, Elisa sah ihn misstrauisch an. »Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Ich meine, wie sollte ich ans Tanzen denken, wenn man mir bei unserer letzten Begegnung noch mein Bein amputieren wollte?«
Wieder lachte Johannes fröhlich. Elisa bemerkte die beiden Grübchen auf seinen Wangen, die sie schon auf seinem Kinderfoto bewundert hatte. Johannes war ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann und ihr Vater hätte sicherlich viel Freude an ihm gehabt.
»Darf ich bitten?«
Ohne Elisas Antwort abzuwarten, machte er eine kleine Verbeugung, so als würde er Elisa mitten im Hof zum Tanz auffordern. Dann nahm er sie an der Hand und drehte sie vor sich hin und her, um sie von allen Seiten zu bewundern. Er schien mit ihrem Anblick mehr als zufrieden.
»Erstaunlich, wie gut Sie nach einem halben Jahr bereits wieder gehen können. Als Sie über den Hof gelaufen sind, konnte ich fast gar nichts von einem Humpeln erkennen. Meine Mutter hatte völlig recht. Es muss Ihr unerschütterlicher Wille sein. Darin sind Sie wohl Ihrem lieben Vater sehr ähnlich …«
Damit ließ er Elisas Hand los. Kurz wanderte ein Schatten von Trauer über sein Gesicht.
»Seine Briefe fehlen mir sehr, wissen Sie … Ihr Vater war es, der mich von Kindesbeinen an zum Lesen animiert hat und mir überhaupt die höhere Bildung nahelegte. Es freut mich zu hören, dass Sie sich ebenfalls für Bildung interessieren und sogar bei Tisch den Mut aufbringen, den
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