Tal der Tausend Nebel
muss. Das wollt ihr doch alle, nicht wahr? Ich soll kein Krüppel mehr sein, sondern das schönste Mädchen auf der Tanzfläche. Bis zum Neujahrsball soll ich doch alle Tänze wie eine Feder tanzen können. Seite an Seite mit Onkel Paul und Tante Katharina soll ich durch die Hibiskusgirlanden schreiten wie eine Königin. Wie soll ich unserer Familie denn Ehre machen, wenn ich im Winter immer noch hinke?«
Elisa machte eine kleine Pause, um ihren Worten noch mehr Wirkung zu verleihen.
»Außerhalb der Plantage muss Kelii mich begleiten, denn es schickt sich nicht für eine junge Dame, ohne Schutz in die Berge zu gehen. Das hast du selber gesagt. Ich hatte Kelii schon seit Tagen gebeten, mich wegen der Pflanzen zu begleiten.«
Die Mutter sagte nichts, sondern sah auf einen imaginären Fleck auf der blütenweißen Bettdecke. Elisa wusste, was das bedeutete, und schickte ein weiteres stilles Stoßgebet gen Himmel.
»Kann ich jetzt gehen, Mutter? Ich bin spät dran und will keinen Ärger verursachen.«
Aber Clementia schüttelte ernst den Kopf.
»Gleich, Liebes. Vorher müssen wir noch über deinen Freund sprechen. Du weißt, ich mag Kelii sehr gerne. Er hat dir das Leben gerettet, später dann auch noch dein Bein. Aber es gehört sich einfach nicht, dass ein Mädchen im heiratsfähigen Alter Zeit allein mit einem der Kanaka verbringt.«
Elisa war es zuwider, wie selbstverständlich ihre Mutter nun auch schon dieses schreckliche Wort für die Hawaiianer benutzte. Aber sie schwieg erneut. Ihre Schuldgefühle waren in diesem Augenblick übermächtig. Daher senkte sie die Augen und nickte gehorsam.
»Ich muss jetzt gehen …«
Die Mutter nickte, aber als sie Elisa eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn strich und sie im Zopf befestigte, waren ihre müden Augen voller Sorge.
»Irgendetwas ist heute anders an dir …«
Clementia musterte ihre Tochter sorgfältig im Halbdunkel. Elisa war in letzter Zeit zu einer schönen jungen Frau erblüht und hatte das ungelenke Mädchen, das sie einst war, hinter sich gelassen. Selbst wenn sie, so wie jetzt, kaum hergerichtet war, hatten sich ihre Züge im letzten halben Jahr verfeinert. Sie war dabei, eine regelrechte Schönheit zu werden. Und an diesem Morgen schien Elisa noch dazu von innen heraus zu leuchten. Ihre leicht geröteten Wangen sahen aus wie frisch erblühte Rosen. Die vollen Lippen, durchblutet von heimlichen Küssen, waren eine einladende Augenweide. Ihre Tochter strahlte alles in allem die reizvolle Sinnlichkeit einer verliebten Frau aus, hätte Clementia gesagt, wenn sie solch einen Gedanken denn zugelassen hätte. Aber Kelii war der einzige Mann außer Elisas Onkel, der regelmäßig in Elisas Umfeld war. Und diesen frevelhaften Gedanken konnte oder wollte Clementia keinesfalls wahrhaben. Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück.
»Geh schon, mein Kind. Wir sehen uns heute Abend.«
Kurz darauf saß Elisa widerwillig an einem zweiten Bett, diesmal an dem ihrer Tante. Katharina hatte ebenfalls beschlossen, die Arbeit des heutigen Tages anderen zu überlassen, da sie an einem plötzlichen Anfall von Migräne litt. Doch nachdem sie Elisa genaue Instruktionen für die Beaufsichtigung und den Unterricht der kleinen Mädchen gegeben hatte, verlangte es sie mit einem Mal noch ein wenig nach Gesellschaft.
»Was gibt es Neues im Dorf? Hast du von deinem Freund Kelii erfahren, ob die neuen Nachbarn endlich eingezogen sind?«
Das Wort Freund zog Katharina betont skeptisch in die Länge. Auch ihr war es nicht recht, dass Elisa sich derart häufig mit den Dienstboten und den primitiven Kanaka abgab. Aber immer verlangte Katharina den neusten Dorftratsch zu hören, denn wenn sich Elisa mit ihrem hawaiischen Schüler traf, kamen meist spannende Neuigkeiten zutage. Zurzeit drehte sich alles um die neue Schule. Seit über einer Woche wurde ein englisches Lehrerehepaar erwartet. Matthew und Dorothy Malloy hatten vor, in Hanalei Bay eine Schule zu gründen. Sie hatten auf halber Strecke zwischen der Plantage und dem kleinen hübschen Ort am Meer ein Häuschen mit zwei Nebengebäuden bauen lassen.
Die Malloys wollten in einem der beiden Nebengebäude die jüngeren Kinder der Arbeiter und der umliegenden Dörfer gemeinsam unterrichten. In dem zweiten Gebäude sollten ältere Kinder und Jugendliche so weit ausgebildet werden, dass sie zumindest im Rechnen, Lesen und Schreiben einen Abschluss bekamen. Mit diesem Diplom sollten die besten der Jungs, egal ob Haoles oder
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