Tal der Tausend Nebel
ersäuft.
Elisa schenkte diesen Gerüchten keinerlei Glauben. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Marie barfuß und wild mit ihren drei jüngeren Kindern auf der Plantage bisweilen Fangen oder Verstecken gespielt hatte. Die Köchin aus Pommern hatte dabei überaus vergnügt ausgesehen. Zudem zauberte Marie in ihrer Küche derartig virtuos verschiedene kulinarische Gedichte, dass man ihr die Vorliebe für ihre Arbeit gerne verzieh. Die Vogels wurden von vielen ihrer Nachbarn und Bekannten um die deutsche Köchin beneidet.
Elisa hoffte, dass ihre Mutter sich kräftig genug fühlen würde, um am Abend dabei zu sein. Ein Essen mit Johannes und seinen Eltern würde sicherlich mehr Freude machen als der übliche frostige Abend zu viert. Die schlimmsten Abende waren freilich die, an denen Elisa allein mit ihrem Onkel und ihrer Tante speisen musste. Nicht nur wurde das Essen mit weißen Baumwollhandschuhen von der hawaiischen Dienerschaft aufgetragen, sondern Elisa musste bei dieser Gelegenheit immer auf Englisch parlieren, um in Übung zu bleiben. Ihre Tante bestand darauf.
Anders waren die Abendessen mit dem Verwalter. Johannes’ Stiefvater Piet van Ween war Elisa nach wie vor unsympathisch. Seine Mutter hingegen, die in der Küche bisweilen ausgesprochen fröhlich war, wurde von den Hawaiianern gemocht. Sie hatte eine Sturm- und eine Sonnenseite, wie Kelii gerne sagte, aber damit glich sie den hawaiischen Frauen, die auch oft sehr temperamentvoll waren. Wenn Marie, wie in letzter Zeit, von ihrem betrunkenen Mann angeschrien und einmal sogar geschlagen wurde, dann war sie am nächsten Tag in der Küche unausstehlich. Ihre Küchenhilfen hatten jedoch Verständnis dafür. Wegen ihrer Ehe mit dem Verwalter bemitleidete man Marie im Dorf. Aber wenn ihr Sohn Johannes wieder mit auf der Plantage wohnte, würde es sicherlich nicht mehr zu derartigen Auswüchsen ehelicher Gewalt kommen. Das hoffte Elisa zumindest und überlegte sich, ob sie Johannes von sich aus anbieten sollte, sich ein wenig um seine Halbgeschwister zu kümmern.
Die drei rothaarigen van Ween-Kinder waren in Elisas Augen bisher nicht weiter beachtenswert gewesen. Aber sie wusste, dass sie weder richtig schreiben noch lesen konnten, obwohl sie bereits im schulpflichtigen Alter waren. Erstaunlich, wie wenig die drei Johannes ähnelten. Was Maries Ältesten betraf, hatte ihr Vater recht gehabt. Zum einen war er seiner Mutter nicht im Geringsten ähnlich, weder vom Aussehen her noch von seiner Art, und zum anderen war er etwas Besonderes. Elisa spürte mit einem Mal, dass ihr Herz erneut begonnen hatte, laut und heiß in ihrem Brustkorb zu schlagen. Es schlug anders als bei Keliis Anblick, aber es meldete sich deutlich.
Instinktiv spürte Elisa, dass Johannes Zeit ihres Lebens eine sehr wichtige Rolle für sie spielen würde.
4. Kapitel
Die Steine-Esser, Sommer 1894
Während Elisa mit ihren Cousinen malte, wie es der Onkel ihr aufgetragen hatte, schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Johannes ab. Sie war froh, dass sie ihn in nächster Zeit näher kennenlernen würde. Ihr Vater hatte ihr immer voller Begeisterung von seinem Patensohn erzählt. Auch die Tatsache, dass Gerhard Vogel ihm ein kleines Erbe vermacht hatte, bestätigte, wie sehr er Elisas Vater beeindruckt hatte. Damals war es das Talent für Zahlen und die offene Art des Jungen, zumindest hatte ihr Vater das gesagt. Elisa erinnerte sich noch gut an seine Worte.
Jetzt war Johannes zudem noch ein weltgewandter junger Mann, der fließend Englisch und Französisch sprach, wie er ihr gesagt hatte, gut aussah und von einer bestechenden charmanten Schlagfertigkeit war. Johannes war durchaus eine passable Partie, auch wenn er kein besonders großes Familienvermögen besaß. Doch was hatte Johannes bloß damit gemeint, dass die Sehnsucht ihn getrieben habe? Und warum musste er so plötzlich nach Kauai zurückkommen? Hatte er auf der Universität, in San Francisco, etwas angestellt?
Johannes beschäftigte Elisa so sehr, dass sie nicht merkte, wie sich die Zwillinge erbittert so lange um ein Stück Papier stritten, bis es in der Mitte durchriss. Sie war vollauf mit ihrer Begegnung auf dem Hof beschäftigt. Gefährlich gut aussehend war er, wie sie fand. Wäre sie nicht bis über beide Ohren in Kelii verliebt, könnte er sich in ihrem Herzen durchaus einen Platz erobern. Auf alle Fälle würde Elisa von jetzt an in ihm einen zweiten Freund auf Kauai haben. Das spürte sie ganz deutlich. Elisa war
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