Tal der Tausend Nebel
sich nicht sicher, ob sie damit auch eine gewisse Verantwortung Johannes gegenüber übernommen hatte. Wenn es so sein sollte, dass sie Freunde waren, dann würde Elisa bald mit ihm ein heikles Thema besprechen müssen. Es ging um seinen Stiefvater.
Derzeit machte in Keliis Dorf eine schlimme Geschichte über Piet van Ween die Runde. Natürlich musste ihr Wahrheitsgehalt sorgfältig geprüft werden, wie Elisa fand. Und Johannes konnte ohnehin noch nichts davon wissen, da er das letzte halbe Jahr fort gewesen war. Aber Gerüchte verbreiteten sich auf Kauai bisweilen sehr schnell, besonders wenn sie negativ waren. In Keliis Klan waren die Frauen zwar berühmt für ihre lebhafte Phantasie und ihr Mitteilungsbedürfnis, wie Kelii ehrlich zugab, aber diesmal gab es Beweise und Zeugen. Noch wurde diese üble Geschichte im Dorf unter Verschluss gehalten, denn sie war auf Grund der strengen Regeln zwischen Männern und Frauen tabu. Man sprach nicht mit Haole über diese Dinge. Für die Hawaiianer gab es Geheimnisse auf vielerlei Ebenen. Manche Dinge waren grundsätzlich tabu. Aber in einige Geheimnisse war Elisa durch Kelii bereits eingeweiht worden.
Es gab die Welt der Gerüche, die unter Hawaiianern eine große Rolle spielte. Gerüche verrieten bisweilen, was für Augen, Ohren und Mund im Dunkeln bleiben musste. So verbarg die ständige Alkoholfahne von Piet van Ween ein besonders düsteres Geheimnis. Selbst Kelii hatte das Gerücht zunächst für übertrieben gehalten. Doch dann hatte er mit den Eltern eines betroffenen Mädchens aus seinem Dorf gesprochen. Sämtliche Geschichten über van Weens Vorliebe für junge Hawaiianerinnen waren wahr. Der rotgesichtige Holländer trank regelmäßig zu viel, bisweilen bereits am frühen Morgen. Dann stellte er den jungen Hausmädchen nach, vor allem in der Waschküche, die abgelegen von den anderen Wirtschaftsräumen lag.
Elisa schüttelte sich vor Ekel bei der Vorstellung, wie Piet van Ween sich an den zarten jungen Mädchen vergriff, die teilweise noch nicht einmal zwölf Jahre alt waren. Sie selbst war noch nie alleine mit ihm in einem Raum gewesen. Die Ausdünstungen seines fleischigen, ungewaschenen Körpers konnte Elisa wahrnehmen, noch bevor sie das Kontor betrat. Dann vergewisserte sie sich immer, ob ihr Onkel auch da war. Ihre Nase warnte Elisa von Anfang an. Man sollte als Mädchen nicht alleine mit Piet van Ween sein, wenn er Alkohol getrunken hatte, das hatte auch ihre Mutter ihr zu verstehen gegeben.
Doch inzwischen ging es nicht mehr um kleinere Übergriffe, sondern um Vergewaltigung. Unter den Arbeitern der Plantage wurde gemunkelt, dass es nur die ganz jungen Mädchen waren, die van Ween besonders reizten. Vor fünf Monden, als Elisa noch krank im Bett lag, hatte es unter den hawaiischen Hausmädchen eine Tote gegeben. Noelani hieß sie, was in Keliis Sprache so viel bedeutete wie Die Schöne vom Himmel. Die Schande hätte die Dreizehnjährige in den Selbstmord getrieben, so hieß es, nachdem Piet van Ween ihr in der Waschküche eines Abends Gewalt angetan hatte. Sie hatte sich vom Wasserfall in die Tiefe gestürzt. Ihr Geheimnis hatte sie angeblich vor ihrem Tod Keliis Schwester anvertraut. Leilani hatte allerdings zunächst geschwiegen, denn das Thema war tabu. Aber tatsächlich war das Mädchen schwanger, als sie sich in den Tod gestürzt hatte.
Amala hatte dies bestätigt und bitterlich zu weinen begonnen. Warum hatte Noelani sich ihr nicht anvertraut? Sie hätte ihr helfen können. Amala war in ihrem Dorf seit Jahren Geburtshelferin und hatte den meisten Kindern ins Leben geholfen. In ihrer Funktion brachte sie den jungen Mädchen bei Eintritt ihrer Mondzeit zusammen mit den Müttern und Großmüttern der Dorfes auch bei, was es hieß, eine Frau zu sein. Es gab ein spezielles Ritual für jedes junge Mädchen, wenn die Zeit gekommen war. Gemeinsam wurde von den Müttern und Großmüttern des Dorfes eine Decke gewebt und dem Mädchen bei einem Dorffest feierlich übergeben. In ihre Decke eingewickelt hatte Noelani sich dem Tod geschenkt.
Zunächst hatte man angenommen, dass das junge Mädchen vielleicht unter den Jungen des Dorfes einen Geliebten hatte, der schon an eine andere vergeben war. Der Liebeskummer hatte ihre Sinne verwirrt, so hoffte man, denn eine Vergewaltigung durch den verhassten Verwalter war ein unfassbares Grauen und auch eine Provokation für das ganze Dorf. Aber für eine geheime Liebesgeschichte des Mädchens gab es keinerlei Anzeichen.
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