Tal der Tausend Nebel
Gehorsam erzogen. Ursprünglich wurden sie zu einem bestimmten Zweck den armen Bauern oben im schwer zugänglichen Bergland abgekauft, wo die Tarowurzeln angepflanzt werden. Ihre Familien waren meist zu arm, um all ihre Kinder selber zu ernähren. Also wurde den Müttern von unserem letzten Pfarrer versprochen, dass ihre Töchter in Lihue etwas lernen würden und eine christliche Erziehung bekämen. So könnten sich die Mädchen ein wenig Geld für einen eigenen Hausstand verdienen und würden gleichzeitig noch etwas lernen. Aber das war eine Lüge …«
Elisa räusperte sich, um ihn zu unterbrechen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich hören möchte …«
Johannes blickte sie abschätzend an. Elisa glaubte so etwas wie Verachtung zu spüren und rechtfertigte sich eilig.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Johannes, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ausgerechnet diese beiden Damen etwas mit dem Haus der Hafenmädchen zu tun haben sollen. Es ist … es ist ein ganz und gar unchristliches Haus …«
Er nickte.
»Das war anders, als ich selber noch ein Junge war. Selbst vor wenigen Jahren noch war das rote Haus ein äußerst christliches Haus. Die Kirche hatte es als Kinderheim erworben. Zunächst kamen die Mädchen, manche von ihnen noch keine zehn Jahre alt, in das ehemalige christliche Kinderheim in Lihue. Es stand einst unter der Leitung von Frau Hesenkamp, der resoluten und sehr moralischen Frau unseres vorigen Pfarrers. Aber als unser neuer Pfarrer, Herr Borchert, unseren alten ablöste, blieben zunehmend die großzügigen kirchlichen Spendengelder für das Kinderheim aus. Auch hatte unsere neue Pfarrersfrau nur wenig Interesse an Kindern … Sie denken jetzt sicher, dass sie das noch lange nicht zu einer Mörderin macht, das denken Sie doch, nicht wahr?«
Elisa nickte. Sie hing jetzt atemlos an Johannes’ Lippen. Er hatte wirklich ihre Neugierde geweckt. Zum einen hatte sie Frau Borchert, die Frau des neuen Pfarrers, bereits kennengelernt und gab Johannes recht. Sie hatte ebenfalls sofort gemerkt, dass Frau Borchert Kinder nicht besonders mochte. Selbst ihre drei wohlerzogenen Cousinen hatten bei ihrem Besuch nach der Begrüßung schnell das Zimmer verlassen müssen. Tatsächlich konnte sich Elisa auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese hochmütige, kinderlose Person einem Kinderheim vorstand. Aber eine Mörderin? Äußerst unglaubwürdig.
»Ich glaube, dass Sie mich beeindrucken wollen und deshalb ganz schamlos übertreiben, Johannes van Ween. Könnte das vielleicht sein?«
Elisa lächelte ihn vorsichtig an. Sie wollte die Geschichte der Hafenmädchen von Lihue weiter hören, denn er konnte einfach wunderbar spannend erzählen. Aber sie wollte ihn gleichzeitig dazu ermutigen, bei der Wahrheit zu bleiben.
Er lehnte sich mit einem Seufzer weiter zurück an den Stamm des roten Jasmin, um einem Sonnenstrahl zu entgehen.
»Es ist für Sie schwer, sich vorzustellen, was alles unter dem Deckmantel der Nächstenliebe und des Christentums möglich ist, nicht wahr? Aber denken Sie immer daran, dass es hier nur um Kanaka geht. Inzwischen ist es so, dass das ehemalige christliche Kinderheim von Lihue zum Roten Haus der Hafenhuren von Lihue geworden ist. Und das haben wir vor allem der netten Frau Borchert und auch einigen anderen Damen zu verdanken, die regelmäßig zu Ihrer Tante zum Kaffeekränzchen kommen.«
»Nein!«
»Doch! Die Frauen des Hibiskus-Komitees, jenem illustren Kreis, zu dem auch Ihre Tante gehört, haben das rote Haus vor einigen Jahren samt allen Mädchen an den Meistbietenden verkauft. Der neue Besitzer, ein geschäftstüchtiger Chinese, hat es in ein Hurenhaus umgewandelt. Das rote Haus ist inzwischen weit über Kauai hinaus berühmt, weil die Mädchen sehr jung sind und immerzu beten. Zudem sollen sie für eine Hand voller Essen alles tun, was die Männer von ihnen verlangen. Der Besitzer der Mädchen füttert sie nicht oft.
Wenn eine von ihnen stirbt oder sich umbringt, werden die Mädchen durch Nachschub ersetzt. Jetzt geht natürlich nicht mehr der Pfarrer in die Berge zu den Bauern, denn inzwischen hat sich dort herumgesprochen, was mit den jungen Mädchen geschehen ist. Jetzt sind es europäische und amerikanische Söldner, die seit einiger Zeit bevorzugt die jungen Mädchen aus den Familien inhaftierter Königstreuer von den anderen Inseln hierher verschleppen.«
Elisa war entsetzt.
»So etwas darf doch bei uns nicht geschehen! Ich
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