Tal der Tausend Nebel
fliehe? Ich meine, sie hatte vorhin am Wasserfall noch solche Angst … Wie ist es möglich, dass es mit einem Mal gar denkbar sein könnte, dass sie von einem Haole schwanger ist?«
Elisa war, als hätte Johannes seine Frage nicht wirklich an sie gerichtet, sondern spräche lediglich laut seine beunruhigenden Gedanken aus.
»Vertrauen Sie Leilani denn nicht?«
Merkwürdig berührt sah Elisa ihren neuen Freund an. Johannes räusperte sich länger, bevor er ihr antwortete. Er schien seine Worte ihr gegenüber sorgfältig abzuwägen, so als dürfte er jetzt nichts Falsches sagen.
»Es ist komplizierter, als Sie denken, Elisa. Der verzweifelte Kampf, den die Hawaiianer begonnen haben, um ihr Land und ihre Traditionen zu verteidigen, ist so gut wie aussichtslos. Kennen Sie das Lied der Steine-Esser? Es ist das Kampflied der Königstreuen. Hat Kelii es Ihnen bereits übersetzt?«
Langsam schüttelte Elisa ihren Kopf. Sie kannte das Lied der Königstreuen nicht, aber alleine der Name dieses Kampfliedes ließ sie innerlich erschauern.
Während die drei kleinen Mädchen jetzt brav ihren Ball im Dreieck hin und her warfen, hörte Elisa aus Johannes’ Mund zum ersten Mal das Lied der Hawaiianer. Es sollte zum Widerstand gegen die weißen Unterdrücker aufrufen.
Wir, die getreuen Söhne und Töchter Hawaiis.
Wir werden leben, indem wir Steine essen.
Mystische Nahrung unserer geliebten Heimat.
Lieber das, als Treue zu schwören den Verrätern.
Sie haben unser Land geschändet.
Wir sind Steine-Esser, unserem Land ewig treu.
Wir halten zusammen. Volk von Oahu und Maui.
Von Kauai, Hawaii und Molokai.
Unser Geburtsrecht verkaufen wir nicht.
Für immer sind wir unserer Königin ergeben.
Ehre all denen, die mit uns unserem geliebten
Hawaii auf ewig die Treue halten.
Hintergrund dieses Liedes war die neueste Foltermethode der amerikanischen Söldner, wie Elisa von Johannes erfuhr. Die vor dem Palast der Königin protestierenden Königstreuen sollten ein für alle Mal zum Schweigen gebracht werden. Zu diesem Zweck zwangen die Söldner hawaiische Männer, Frauen und Kinder vor dem Palast ihrer Königin niederzuknien. Sie mussten so lange Steine und Erde essen, bis sie bewusstlos oder sogar bisweilen tot zusammenbrachen. Johannes Stimme war leise und traurig, als er sagte, dass auch Leilanis und Keliis Mutter unter den Königstreuen war. Von Söldnern war sie kürzlich verhaftet und verschleppt worden. Das hatte Johannes gleich nach seiner Rückkehr von Leilani erfahren.
»Deshalb ist es so kompliziert, Elisa, verstehen Sie mein Misstrauen jetzt? Einerseits müssen wir Weißen zurzeit mehr denn je zusammenhalten, da wir sonst unsere Plantagen verlieren könnten. In Amerika meinte man sogar, wir Weißen würden auf den Inseln bald zu Vogelfreien werden. Dann könnte jeder Hawaiianer uns ungesühnt umbringen.«
Elisa schüttelte energisch den Kopf.
»Das ist doch völlig absurd! Man wollte Ihnen in Amerika nur Angst machen. Die größten Händler von Zuckerrohr leben alle an der Westküste. Sie haben sich zusammengetan und wollen ein Monopol auf Zucker. Es geht also um ein rein wirtschaftliches Interesse!«
Johannes nickte traurig.
»Deswegen kann ich die Königstreuen auch so gut verstehen. Die Weißen haben sie über Jahrzehnte belogen, wir Europäer genauso wie die Amerikaner. Der Profit durch billiges Zuckerrohr ist alles, was die Händler und Plantagenbesitzer interessiert. Sobald die Söldner die Hawaiianer unterjocht haben, indem ihre Königin mundtot ist, haben sie freie Bahn. Es geht nur um Gier und Profit. Selbst die angeblich wohlmeinende Missionierung der Inseln ist lediglich eine Maske an Falschheit und Berechnung.
Leilani und Kelii waren noch keine zehn Jahre alt, als sie begannen, dem angeblich so gottesfürchtigen englischen Missionar, der uns unterrichtete, unangenehme Fragen zu stellen. Der Geistliche hatte mit einer Frau aus dem Dorf ein Kind gezeugt und es dann verleugnet … Die arme Frau wurde als Lügnerin von ihren eigenen Leuten davongejagt, damit der Priester das Gesicht wahren konnte. Ein Diener Gottes lügt nicht und sündigt auch nicht. Aber wir als seine Schüler kannten natürlich die Wahrheit. Dieser Mann Gottes hatte nicht nur feige gelogen, sondern uns Kindern auch wiederholt gedroht. Gott würde uns für immer in der Hölle brennen lassen, wenn wir die Wahrheit sagten. Also haben Kelii, Leilani und ich unseren Mund gehalten. Aber so richtig hat keiner von uns danach wieder an
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