Tal der Tausend Nebel
meine, es muss doch Gesetze dagegen geben.«
Wieder lachte Johannes bitter.
»Natürlich. Es wurden jede Menge Gesetze erlassen. Einige Mädchen aus den Bergen waren noch nicht einmal zehn, als sie in das ehemalige christliche Kinderheim kamen. Zehn war laut Gesetz zu jung für eine Hure. Die hawaiischen Mädchen, die im roten Haus am Hafen zur Arbeit gezwungen werden, weil sie sonst verhungern, mussten nach dem offiziellen Gesetz mindestens zwölf Jahre alt sein. Zudem war für jede der Mädchen eine gesetzliche monatliche Abgabe fällig, zu zahlen an die edlen Damen des Hibiskus-Komitees. Und – auch die Einhaltung sämtlicher Gesetze zum Schutz der jungen Mädchen wird übrigens von dem Hibiskus-Damenkomitee selbst überprüft.«
Elisa schwieg. Was sie da hörte, war einfach ungeheuerlich, zu ungeheuerlich, um wahr sein zu dürfen. Johannes schwieg ebenfalls einen Moment. Sein Gesicht sah mit einem Mal älter aus als vorher. Eine tiefe Traurigkeit ging von ihm aus.
»All das ist nichts Neues. Kelii wollte Sie bis jetzt sicherlich nur schonen, weil Sie so lange krank waren. Oder vielleicht wollte er Ihnen auch nur nicht die gute Laune verderben. Aber glauben Sie mir, Elisa, hier auf Kauai sind die Verhältnisse zwischen den Kanaka und den Haole um vieles komplexer und undurchsichtiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Deshalb mache ich mir auch große Sorgen um Leilani und unser Kind, sehr große Sorgen sogar …«
Johannes stand mit einem weiteren Seufzer auf und klopfte sich die Hosen sauber. Methodisch begann er, auch einige der roten Jasminblüten, die sich in seinen Haaren und auf seinem Anzug verfangen hatten, abzustreifen. Er sammelte sie sorgfältig in seiner Hand. Für Elisa sah es aus, als wäre seine Hand voller Blut. Sein trauriger Blick zerriss ihr fast das Herz, als er ihr die Blüten reichte.
»Auch Sie werden im kommenden Winter beim Hibiskus-Ball debütieren. Sie werden in einem neuen Kleid wunderschön aussehen. Sie werden kein bisschen mehr hinken und alle Tänze mittanzen können. Ihr Lächeln wird Tugendhaftigkeit und Anmut ausstrahlen, wie man es von einer jungen Deutschen erwartet. Sie werden die beste Partie von ganz Kauai machen. Aber Sie werden auf dem Ball auch sehen, wie überaus prachtvoll alles dekoriert sein wird. Für das Debüt der zukünftigen Bräute Kauais wird von den Damen des Komitees viel getan. Aber die Gelder für den Ball kommen von den Hafenhuren von Lihue. Denken Sie daran, dass es Blutgeld ist. Vielleicht können Sie eines Tages, wenn Sie selber eine einflussreiche Vorsitzende sind, etwas für die Hafenmädchen tun.«
Stumm nahm Elisa die Hand voller roter Blüten von Johannes entgegen. Eine Mischung aus Abscheu und Wut stieg in ihr auf. Allein der Gedanke, dass ihre Tante zu derartiger Grausamkeit fähig war, obwohl sie doch selber drei Töchter großzog, ließ sie verstummen. Unfähig, die netten Abschiedsworte von Johannes zu erwidern, wandte Elisa sich ihren Cousinen zu. Erhitzt vom Ballspiel bat Hildegard artig um eine Erfrischung für sich und ihre Schwestern. Elisa, die mit einem Mal Tränen der Hilflosigkeit in ihren Augen spürte, war froh durch die Kinder abgelenkt zu sein. So viel Grausamkeit und Elend auf einmal war zu schmerzhaft an diesem Tag.
Elisa war ihrem Liebsten heute zum ersten Mal wirklich nahegekommen. In Keliis Armen hatte sie die Macht und den Sog der körperlichen Liebe gefühlt. Nichts und niemand durfte ihr einmaliges Erlebnis am Wasserfall überschatten, auch Johannes nicht. Denn Elisa hatte nicht vor, eine der einflussreichen Damen im Hibiskus-Komitee zu werden. Schon längst hatte das Schicksal ihr einen anderen Weg zugedacht. Kelii würde ihr Mann werden, das spürte sie bis in die Tiefe ihres Seins.
Elisa sah Johannes an diesem Tag noch ein drittes Mal. Erneut hatte sie das Gefühl, einen völlig anderen Menschen vor sich zu haben. Er musste gewohnt sein, in mehreren Welten gleichzeitig zu leben. Zumindest beherrschte er die hohe Kunst der Verstellung wie ein Meister. Beim gemeinsamen Essen der Familien war er so charmant und witzig, dass er ihre Mutter gleich mehrfach so zum Lachen brachte, dass Clementia ihr Gesicht hinter der Serviette versteckte. Seit einer halben Ewigkeit hatte Elisa ihre Mutter nicht mehr so ausgelassen erlebt. Überhaupt war das gemeinsame Essen ein voller Erfolg.
Auch Katharina war durch das grüne Pulver in einen heilenden Schlaf gefallen. Ihre Migräne war verschwunden. Zum ersten Mal seit der
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