Tal der Tausend Nebel
um. Vielleicht werde auch ich nicht mehr lange bei dir sein können, um dich zu beschützen. Deshalb … nütze deine Zeit weise.«
Elisa war froh, als ihre Mutter eingeschlafen war. Eigentlich hätte sie selber auch müde sein müssen, denn es war ein ereignisreicher Tag gewesen. Aber die Neugierde auf Johannes überwog. Er hatte ihr zugeflüstert, dass er sie gerne später noch treffen würde. Als sie kurz vor Mitternacht in die laue Nacht trat, klopfte ihr Herz vor Aufregung. Sie war gewohnt, sich um diese Zeit heimlich mit Kelii zu treffen, und spürte ein vertrautes Ziehen in ihrer Brust. Es war die Sehnsucht, die sie immer dann überfiel, wenn sie ihn länger nicht gesehen hatte. Aber an diesem Tag hatte sie eigentlich keinerlei Veranlassung zur Sehnsucht, dachte sie in der lauen Nacht, die voller Gerüche und Geräusche war. Grillen zirpten ihr Lied und die Luft war schwanger vom betörenden Duft des roten Jasmin. Sie hatte ihren Liebsten heute gesehen. Es war zwischen ihnen mehr geschehen, als Elisa sich in ihren heißen und unruhigen Nächten je erträumt hatte. Mit Händen, Augen, Stimmen und Zungen hatten sie sich am Wasserfall geliebt, bis ihr sämtliche Sinne geschwunden waren. Es war unglaublich gewesen. Allein die Erinnerung brachte die Hitze zwischen ihren Beinen erneut zum Glühen. Sie hoffte sehr, dass Kelii dieses göttliche Liebeserlebnis genauso ernst nahm wie sie. Und allem Anschein nach war es so. Ihre Beziehung musste für ihn eine ernste Sache sein, denn warum sonst hätte er mit seinem Vater sprechen sollen? Er hatte durchgesetzt, dass Elisa zum ersten Mal mit ihm zum Vollmondfest kommen durfte. Er musste also genauso fühlen wie sie. Sie war seine Liebste, so wie er ihr Liebster war, dachte Elisa und sog den süßen Duft der Nacht tief in ihre Lungen.
Das also war sie, die viel besungene Liebe. Und wo diese tiefe und leidenschaftliche Liebe zwischen einem Mann und einer Frau wohnte, da gab es immer auch einen Weg. Diese Weisheit hatte Elisa schon früh von ihrem Vater gelernt. Er hatte ihr »Romeo und Julia« vorgelesen, obwohl ihre Mutter sie für William Shakespeares Stücke damals noch viel zu jung fand. Elisa lächelte, als sie sich in der schwülen Nacht an die glühenden Worte ihres Vaters erinnerte. Vertrauen sollte man in die Kraft der Liebe und sich von nichts und niemandem irritieren lassen, das hatte er gesagt. Über den Tod des jungen Liebespaars allerdings hatte er mit Elisa nicht sprechen wollen. Seiner Meinung nach hatte das Theaterstück ganz einfach das falsche Ende. In der Welt ihres Vaters trug die Liebe immer den Sieg davon.
Elisa war hellwach, als sie sich leise durch die Küche ins Haupthaus schlich, um aus der Bibliothek heimlich ein Buch zu holen, das sie Johannes vorhin versprochen hatte. Es war ein Band über die Lehren des Konfuzius. Johannes hatte in dem halben Jahr in San Francisco begonnen, sich mit der chinesischen Kultur auseinanderzusetzen. Er war beeindruckt von Elisas Wissen über chinesische Kunst, Literatur und Malerei. Er bat sie um Leseempfehlungen, und sie hatte sofort an Konfuzius gedacht. In der Bibliothek ihres Onkels stand ein kleines Bändchen, in schwarzes Leder gebunden, in dem Konfuzius’ wichtigste Erkenntnisse standen.
Von dem Bücherverbot, das ihr Onkel ausgesprochen hatte, sagte Elisa ihrem neuen Freund nichts. Dazu war sie zu stolz. Zudem hatte sie dieses alberne Verbot nicht einen einzigen Tag lang beachtet. Elisa las immer irgendetwas. Seit sie lesen konnte, hatte sie immer ein Buch auf ihrem Nachttisch. Nur versteckte sie jetzt eben ihre Bücher geschickt in ihrem Zimmer zwischen Bettkasten und Matratze oder aber in ihrer Kleidertruhe. Um keinen Ärger zu bekommen, bediente sie sich inzwischen auch nur noch heimlich und oft mitten in der Nacht an der beeindruckenden Büchersammlung ihres Onkels.
Als sie jetzt auf dem langen Korridor von den Wirtschaftsräumen zur Bibliothek am Schlaftrakt der Familie vorbeischlich, hörte sie deutlich aus dem Elternschlafzimmer aufgeregte Stimmen. Ihr Onkel und ihre Tante waren noch wach. Sie stritten. Als Elisa ihren Namen hörte, blieb sie vor der Tür stehen. Lauschen gehörte sonst nicht zu ihrem Repertoire, aber in diesem Moment siegte die Neugierde über ihr Ehrgefühl. Ihr Onkel klang wütend, wie so oft, wenn seine Frau ihn mit ihrer spitzen Zunge quälte. Er war offensichtlich dabei, sich gegen einen Vorwurf zu verteidigen.
»Ich kann nichts für den Wortlaut, der genau so in der
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