Tal der Tausend Nebel
Geburt ihres vierten Kindes fühlte sie heute ihre Lebensgeister zurückkehren, wie sie selber sagte. Elisa musste insgeheim zugeben, dass Katharina an diesem Abend sogar fast hübsch aussah mit ihren vom Wein geröteten Wangen. Eine lebhafte Unterhaltung begann, als Johannes von seinem Leben in San Francisco erzählte und dabei nicht vergaß, den anwesenden Damen die neueste Mode der Damenwelt von Amerika ausführlich zu beschreiben.
Marie van Ween strahlte. Sichtlich stolz auf ihren Sohn beteiligte sie sich lebhaft am Gespräch und stellte dabei jede Menge Fragen über die rapide wachsende Goldgräberstadt, um die sich seit gut einem halben Jahrzehnt die abenteuerlichsten Gerüchte rankten. Immer mehr Chinesen waren in letzter Zeit in dem überfüllten Hafen von San Francisco angekommen. Johannes berichtete von einer wilden Mischung aus kulturellen und wirtschaftlichen Welten, die im wachsenden Goldrausch bisweilen brutal aufeinanderprallten.
In dem halben Jahr, in dem er dort war, hatte er nicht nur studiert, sondern auch für einen der großen asiatischen Händler gearbeitet. Auf diese Weise hatte er Einblicke in Märkte und kaufmännische Gepflogenheiten gewonnen, die auch für Paul Vogel ausgesprochen interessant waren.
Elisa war im Übrigen mehr als erstaunt über Marie van Weens intelligente Fragen. Sonst meist von früh bis spät in der Küche und den Wirtschafträumen beschäftigt, hatte Elisa die Frau von Piet van Ween völlig falsch eingeschätzt. Ihr einfaches Pidgin-Englisch, das Marie den Angestellten gegenüber benutzte, wich jetzt bei Tisch einem gepflegten Hochdeutsch. Nicht nur war sie eine intelligente und unterhaltsame Gesprächspartnerin, sondern sie hatte noch dazu eine Leidenschaft für Literatur. Elisa lächelte vor sich hin. Von ihr hatte Johannes also sein charmantes Wesen und seine kluge Art, Fragen zu stellen.
Das Tischgespräch riss den Abend über nicht ab. Überhaupt kam es Elisa so vor, als wäre mit Johannes’ Rückkehr der fehlende Stein eines Puzzles wieder an seinen Platz gerückt. Es war alles in allem ein derartig unterhaltsamer Abend, dass selbst die gravierenden Probleme zwischen den Haole und den Kanaka, die Elisas Seele unter dem roten Jasmin noch zu erdrücken gedroht hatten, bei Tisch wie weggeblasen waren. Eine fast euphorische Stimmung hielt bei Elisa an, als sie ihre beschwipste Mutter zu Bett brachte. Clementia kannte an diesem Abend nur ein einziges Thema.
»Einfach hinreißend hat Johannes uns heute Abend unterhalten, findest du nicht, mein Engel?«
Elisa war damit beschäftigt ihrer Mutter Schuhe und Strümpfe auszuziehen, und hatte wenig Lust, sich auf ein längeres Gespräch über Johannes’ Vorzüge einzulassen. Aber ihre Mutter ließ nicht locker.
»Er ist wie dein Vater, als er noch ganz jung war … so voller Kraft und Ideen. Dabei aber durchaus sensibel und von einem Charme, der selbst mich alte Schachtel noch bezaubert.«
»Du bist nicht alt, Mutter.«
Elisa stellte Schuhe und Strümpfe an ihren Platz und machte sich an die vielen kleinen Knöpfe an der Rückseite von Clementias Kleid. Ihre Mutter kicherte albern.
»Also wenn ich du wäre, mein Kind, dann würde ich mir zumindest eine kleine Freiheit mit Johannes erlauben … bevor, also bevor du vielleicht einem alten Bräutigam ewige Treue geloben musst, der dir nicht halb so gut gefällt.«
»Mutter!«
Wieder kicherte Clementia, diesmal über das entsetzte Gesicht, das ihre Tochter machte. Leicht beschwipst, wie sie war, hob sie warnend ihren Zeigefinger und wedelte vor Elisas Augen hin und her.
»Denk daran, mein Liebes, dass so ein Eheleben verdammt lang sein kann, wenn man mit einem Mann verheiratet ist, der nicht so viel Charme und gutes Aussehen hat wie Johannes. In solch einem Fall helfen uns Frauen zwei essentielle Dinge: die Erinnerung und die Vorstellungskraft!«
Elisa hatte auch den letzten kleinen Knopf des feinen schwarzen Kleides geöffnet. Während ihre Mutter unbeweglich wie ein Sack Mehl auf dem Bett saß und kicherte, bemühte sie sich, ihr die engen Ärmel abzustreifen.
»Bitte, Mutter, könntest du ein wenig mehr mithelfen? Oder möchtest du die heutige Nacht in deinem Korsett verbringen?«
Elisas Stimme war jetzt scharf und ungeduldig. Clementia aber schwebte in anderen Gefilden.
»Hör mir zu, Elisa! Ich gebe dir jetzt einen guten mütterlichen Rat. Fülle deine Schatztruhe mit schönen Erinnerungen, solange du kannst. Mit uns Frauen geht das Leben nicht immer sanft
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