Tal der Tausend Nebel
sein.
Elisa ertappte sich dabei, wie sie in ihrem Zimmer leise die Melodie des verbotenen Liedes summte, während sie auf Johannes wartete. Der Titel des Liedes lautete auf Hawaiisch »Mele Aloha’ Aina« und bedeutete wörtlich: Das Lied des Landes, das wir lieben. Auch Elisa hatte begonnen, dieses Land zu lieben, allein schon deshalb, weil sie Kelii liebte.
Trotzdem jagten ihr bei dem Gedanken an den Liedtext jetzt kalte Schauer den Rücken hinunter. Sie verstand die zunehmende Wut der Hawaiianer gut, aber sie glaubte langfristig nicht an einen Sieg über die weißen Eindringlinge. Dazu hatte Elisa in ihrem kurzen Leben schon zu viele kluge Bücher gelesen. Cicero zum Beispiel hatte schon im alten Rom erkannt, wann ein Volk sich mit Gewalt auflehnen sollte und wann nicht. Die Weißen hatten auf den hawaiischen Inseln schon zu viel Zeit und Kapital investiert, um kampflos aufzugeben. Wenn es sein müsste, da war Elisa sicher, würden die Weißen die Hawaiianer auch mit brutaler Gewalt ausrotten. Viele von ihnen waren so kaltherzige und gierige Menschen wie Katharina. Elisa schämte sich plötzlich für ihre Tante. Von sich aus würde Elisa keinen einzigen Tag länger bleiben, wenn sie nur schon wüsste, wohin sie mit Kelii gehen sollte.
»Elisa … Sind Sie noch wach?«
Johannes stand direkt vor ihrem Fenster.
Gemeinsam saßen sie noch Stunden später am Meer, schmiedeten wilde Pläne und blickten auf die weißen Schaumkronen, die schwach das aufgehende Morgenlicht reflektierten. Johannes war voller Verzweiflung, denn er hatte mit seiner Vermutung recht gehabt. Leilani war von ihrem Vater und ihrem Bruder an diesem Tag fortgebracht worden. Keiner im Dorf wollte Johannes sagen wohin. Das Einzige, was man ihm gegeben hatte, war ein Lendentuch, das Leilani extra für ihn gewebt hatte. Jetzt trug er ihr Tuch um seinen Hals und versuchte, seine Gefühle der Ohnmacht in den Griff zu bekommen.
»Kelii hätte offen mit mir reden müssen …«
Das gewebte Tuch ging ihm im Sitzen bis zu den Füßen, die barfuß im weißen Sand standen. Johannes Hände krampften sich um das leuchtende Orange, das sich mit Weiß und Meeresblau in einem heiteren Muster abwechselte. Sie saßen auf einer Gruppe von Felsen, die Elisa gut kannte. Als Kelii ihr das Schwimmen beigebracht hatte, saß Leilani mit ihren Freundinnen hier.
Fast in jeder lauen Sommernacht kamen die Jugendlichen aus dem Dorf nachts an diese Stelle, um zu schwimmen. Während sie sich in den heißesten Nächten des Jahres abkühlten, scherzten sie und lachten und sangen ihre Lieder. Besonders die hellen Mondnächte, die den weißen Sand in ein Meer von glitzernden Sternen verwandelten, waren beliebt. Doch obwohl in zwei Nächten Vollmond sein würde, war der Strand heute gespenstisch leer. Dennoch wollte Elisa versuchen, Johannes gedrückte Stimmung ein wenig zu heben.
»Leilanis Verschwinden könnte vielleicht harmlos sein … Ich meine, vielleicht sind sie bei Vollmond alle drei zurück.«
Johannes schüttelte verzweifelt seinen Kopf.
»Der Weg nach Maui ist viel zu weit. Nein, sie haben Leilani fortgebracht, damit sie nicht mit mir an Bord des Schiffes nach San Francisco geht. Ich spüre das … der Vater hat sich gegen mich entschieden.«
Johannes Miene hatte sich verdüstert.
»Es gibt eben an den Hawaiianern bestimmte Seiten, die wir Weißen einfach nie verstehen werden«, sagte er, während er auf das Meer hinausstarrte. Jetzt, bei Ebbe, war auf der linken Seite der Bucht das Riff zu sehen, zu dem Elisa eines Tages schwimmen wollte, wenn sie ihre Ängste überwunden hatte. Dort lebte Großvater Hai. Elisa fröstelte trotz der lauen Morgenluft.
»Meinen Sie, dass es vielleicht doch irgendwie unrecht ist, wenn so eine Verbindung gegen den Willen der Eltern … ich meine …«
Elisa musste ihren Satz nicht beenden. Sie sah in Johannes’ Augen, dass er auch so wusste, was sie meinte. Seine Finger strichen fast zärtlich über das Meeresblau auf dem gewebten Stoff.
»Ich weiß sogar, dass es unrecht ist. Leilani und ich haben oft darüber gesprochen. Mein Stiefvater hasst die Hawaiianer. Er ist gewalttätig und böse. Nie hätte er Leilani in unserer Familie akzeptiert.«
Johannes sah wieder auf das Meer hinaus, so als könnte er dort draußen seine Liebste wiederfinden.
»Ich will niemanden sonst auf Dauer in meinem Leben haben. Seit wir Kinder sind, liebe ich Leilani. Auch in San Francisco wachte ich jeden Tag mit ihr auf und ging mit ihr zu Bett.
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