Tal der Tausend Nebel
plötzlich an Stefans kritische Blicke. Er mochte ihre weichen Formen nicht, sondern sprach immerzu von ausgeprägterer Muskeldefinition. Letztes Silvester hatte er sogar einen roten Strich auf ihre Waage gemalt. Das war die absolute Obergrenze. Morgens musste Maja sich dem roten Strich stellen. War ihr Gewicht einmal darüber, wurde sie von ihm umgehend mit ihren Esssünden konfrontiert. Er wusste meist besser als sie, mit welchen Kalorien genau sie wann gesündigt hatte. Danach gab es unter Stefans Aufsicht Kurz-Diät und vor allem keinerlei Sex, bis der rote Strich auf der Waage wieder mit ihrer Essdisziplin zufrieden war.
»Bitte, Keanu, wir werden uns wahrscheinlich nach dieser Woche nie wiedersehen. Ich werde also nie wieder die Gelegenheit haben so etwas … etwas Magisches … zu erleben. Bitte gib mir deinen Haifischzahn!«
Das Meer rauschte wunderbar laut in Majas Ohren, als sie erneut zusammen raus in die höheren Wellen schwammen, um es noch einmal zu versuchen.
Das Rauschen löschte die unangenehmen Gedanken an Stefan in Maja aus. Der Vollmond kam hinter seiner Wolkenwand hervor. Während sie bis ans Ende der Mole hinausschwammen, musterte sie ihn von der Seite. Er war im Meer völlig in seinem Element. Mit seinen ebenmäßig schnellen Zügen konnte sie kaum mithalten, denn Keanus Kraulen war fast lautlos. Seine Augen waren geschlossen, als ob er sich konzentrieren müsste, um eine bestimmte Stelle zu finden. Dennoch schien er es immer zu spüren, wenn Maja für sein Gefühl zu weit weg von ihm war. Er verlangsamte sein Tempo und wartete die nächste höhere Welle ab.
»Hier, hier können wir es vielleicht noch einmal versuchen … warte … ich möchte etwas prüfen.«
Er tauchte unter und war verschwunden. Maja schwamm auf der Stelle und ließ sich von den dunklen Wellen auf und ab tragen. Während sie auf sein Auftauchen wartete, sah sie sich um. Am Ende der steinernen Mole, die weit ins Meer hinausragte, sah sie zwei nächtliche Angler. Einen kurzen Moment sah es so aus, als hätte einer von beiden ein Fernrohr, das auf Maja gerichtet war. Doch dann schob sich eine Wolke vor den Mond. Sie konnte auf die Entfernung nichts mehr erkennen.
Das salzige Wasser fühlte sich warm auf ihrer Haut an, fast noch wärmer als die Luft. Maja war eine gute Schwimmerin. Seit ihrer Kindheit liebte sie das Meer an der Côte d’Azur, besonders im September. Dann waren die meisten Touristen bereits fort, das Wasser aber noch schön warm.
Bisher hatte sie nie geahnt, was für gewaltige Energien unter der Wasseroberfläche schlummerten. Eine starke Magie verband alle Meere dieser Welt, einmal durch das Salz und dann durch ihr immenses Alter. Die gewaltigen Wasserkörper auf unserem Planeten hielten in sich alle Informationen gespeichert, die es je gegeben hatte. So hatte es ihr Keanu erklärt. Alles auf dieser Welt ist Meer, und alles ist irgendwie miteinander verbunden, wie in einer Art Radiowellen ist diese Information kanalisiert, so sollte sich Maja das vorstellen. Man musste nur wissen, wie man die richtige Frequenz findet. Majas Frequenz, das war von Anfang an klar für ihn, waren die Haifische und damit vor allem auch Elisa, die legendäre weiße Haifischfrau aus Keanus Klan.
»Keanu?«
Maja hörte ganz in der Nähe ein Geräusch. Es klang wie das Aufklatschen einer Hand oder aber einer Flosse. Ob es überhaupt größere Haie im Mittelmeer gab? Ehrlich gesagt war Maja selbst beim Tauchen nie darauf aus gewesen, einem Hai zu begegnen, der größer als einen Meter war. Sie hatte als Kind einmal einen Film gesehen, der immer noch in ihren Ängsten herumspukte. »Der weiße Hai« hatte ein durch und durch erschreckendes Bild von Haien in ihr hinterlassen.
»Keanu?«
Sie rief ihn jetzt lauter. Unruhig suchte sie seinen Kopf in den weiter entfernten Wellen, auf denen vereinzelte Schaumkronen tanzten. Die Stärke der Mistralwinde hatte merklich nachgelassen. Es war lange nicht mehr so windig wie an den Tagen zuvor.
Wieder hörte sie ein Geräusch. Maja drehte sich um sich selber. Sie konnte Keanu aber nirgendwo sehen. Hawaiianer können sicher eine halbe Ewigkeit lang tauchen, dachte Maja noch, als sie aufschrie.
Dann fühlte sie unter Wasser seine Hand an ihrem Bein. Zielsicher umfasste er ihren Knöchel. Einen Moment später zog er sie bereits nach unten.
Maja umfasste diesmal den Haifischzahn mit ihm gemeinsam. Danach dachte sie nur noch an Elisas ängstliche Augen in dem kalten Nebelfeld, in dem sie sich
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