Talitha Running Horse
wir ja nicht, solange wir bei Tante Charlene wohnen.« Della Thunderhawk lächelte. »Du bist verdammt tapfer, Tally, wirklich. Du und dein Dad, ihr seid bei uns jederzeit willkommen. Und nicht nur, wenn ihr etwas braucht.«
Als ich mich von ihr und den Mädchen verabschiedete, sagte sie: »Nun kannst du Stormy jeden Tag sehen, Tally. Bestimmt wird sie sich darüber freuen.«
»Nun kannst du Stormy jeden Tag sehen«, hatte Della gesagt. Dieser Gedanke hielt mich davon ab, gänzlich in dieses schwarze Loch aus Kummer und Verzweiflung zu fallen. Es würde weitergehen. Es musste weitergehen.
Ich lief auf der anderen Seite um das Haus herum, weil ich Neil nicht begegnen wollte. Ich hatte ihn vorhin bei der Scheune gesehen. Doch jetzt kam er mir entgegen. Er führte eine grau gefleckte Stute am Halfterstrick, und mein Herz flatterte, als wir uns schlieÃlich gegenüberstanden. Neil Thunderhawks Blick war voller Mitleid. Ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte. Es war, als ob ich mich für unser Unglück schämte.
»Tut mir Leid, das mit eurem Trailer«, sagte er vorsichtig.
Ich nickte mit zusammengepressten Lippen.
»Hoffentlich findet dein Dad schnell eine neue Bleibe für euch. Ich jedenfalls würde es nicht lange aushalten bei Charlene Running Horse. Von Marlin ganz zu schweigen.«
Was er da sagte, tröstete mich nicht gerade. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als es auszuhalten«, sagte ich. »Wir können sonst nirgendwohin.«
Neil trat einen Schritt auf mich zu und legte mir seine Hand auf die Schulter. »Wenn er dich ärgert, dann sag es mir.«
»Ich glaube nicht, dass ich das tun werde«, erwiderte ich finster. »Ich will nicht, dass du dich meinetwegen mit Marlin prügelst. Es reicht, dass seine Kumpane dich einmal krankenhausreif geschlagen haben.«
»Er ist ein mieses Arschloch«, sagte Neil hasserfüllt.
»Als sein Vater noch lebte, war er nicht so«, bemerkte ich. »Und Tante Charlene auch nicht. Sie haben es einfach nicht verkraftet, dass Onkel Frank tot ist.«
Neil schnaufte ärgerlich. »Wenn alle, die jemanden verloren haben, so unangenehm werden würden wie Marlin und seine Mutter«, sagte er, »wo kämen wir denn da hin? Deine Tante glaubt, sie ist was Besseres, das ist alles. Und Marlin glaubt das auch. Bloà weil er sich mit Leuten abgibt, die anderen mit einer Knarre vor der Nase herumfuchteln und sich dabei auch noch toll vorkommen.«
»Marlin hat eine Waffe?«, fragte ich erschocken.
»Das weià ich nicht«, erwiderte Neil aufgebracht. »Aber seine Kumpels aus der Gang haben welche, ich habâs gesehen.«
»Du musst es der Polizei melden.« Ich dachte an Officer Shortbull und an den Mathelehrer, der erschossen worden war.
Neil lachte verächtlich. »Der Polizei melden? Die wissen das doch längst und können trotzdem nichts machen. Nimm dich bloà in Acht vor deinem Cousin, Tally, und reiz ihn nicht unnötig.«
Ich nickte beklommen.
Die Stute hatte vom gelben Steinklee am Wegesrand gezupft und zog nun ungeduldig am Strick. »Schon gut«, sagte Neil zu ihr. »Ich komme ja.«
»Willst du sie reiten?«, fragte ich.
Neil schüttelte verlegen den Kopf. »Suzy kommt gleich«, sagte er, »sie wird sie reiten. Psitó lahmt. Hat mein Vater dir das noch nicht gesagt?«
»Ist es schlimm?«
»Keine Ahnung. Dr. Morgan kommt erst heute Abend.«
»Na dann«, murmelte ich.
»Tóksâ«, sagte Neil. »Wir sehen uns.«
Ich lief weiter, stolperte weiter, blind vor Kummer. Warum war nichts, aber auch gar nichts so, wie ich es mir in meinem Leben wünschte? Warum wurde alles immer schlechter und niemals besser?
In den Tagen, die dann folgten, kam ich mir vor, als würde ich das Leben eines anderen Menschen leben und nicht mein eigenes. Adena fehlte mir sehr und das Gefühl, von Charlene geduldet, aber nicht willkommen zu sein, war schrecklich. Ich würde mich nie an das Leben im Haus meiner Tante gewöhnen, schon gar nicht an dieses Kellerzimmer. Durch die beiden kleinen Fenster unter der Decke kam tagsüber kaum Licht herein, und in der Nacht herrschte hier unten eine Dunkelheit, die mir das Gefühl gab, in einer Höhle zu hausen. Meine Tante saà den lieben langen Tag vor dem Fernseher, trank süÃe Limonade und futterte Chips in sich hinein. Von freundlichen Worten schien sie
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