Talitha Running Horse
auf Indianerland etwas über den Sinn des Lebens zu erfahren. Obwohl ich damals erst 22 war, glaubte sie, ich würde ihr diesen Sinn geben können. Deine Mutter hat mich für jemanden gehalten, der ich nicht war, Tally.«
Dad seufzte. »Deine Mutter war ein Mensch, der es gewohnt war, das Leben von der leichten Seite zu sehen. Aber das Leben im Reservat war niemals leicht und für Holly schon gar nicht. Sie konnte nicht hier leben. Sie wurde immer trauriger und unglücklicher, deswegen hat sie sich entschieden fortzugehen. Ich weiÃ, dass sie dich sehr geliebt hat, Braveheart. Das musst du mir glauben.«
Für einen kurzen Augenblick versuchte ich mir vorzustellen, wie mein Leben jetzt aussehen würde, wenn meine Mutter mich damals nicht an dieser Tankstelle abgesetzt, sondern mitgenommen hätte. Vielleicht hätte ich jetzt ein schönes helles Zimmer, eine Menge Freunde in der Schule und vielleicht sogar ein eigenes Pferd. Vielleicht hatte meine Mom einen reichen Mann geheiratet und lebte auf einer groÃen Farm mit vielen Tieren.
Ich schluckte. Wie mies kam ich mir vor, wenn ich solche Dinge dachte. Wo ich doch wusste, dass mein Dad sich Tag und Nacht den Kopf zerbrach, wie er uns aus dieser schrecklichen Situation herausholen konnte.
Ich schob meine Hand zu ihm hinüber, und er nahm sie. »Ich hab dich lieb, Dad«, sagte ich.
»Ich dich auch, Braveheart«, flüsterte er mit belegter Stimme. Es war so dunkel hier unten, dass ich ihn nicht sehen konnte. Aber ich hörte, dass er weinte.
Natürlich war ich immer froh, wenn Marlin nicht da war, denn dann hatte ich meine Ruhe. Ich spülte Geschirr, wischte Böden, putzte Fenster und legte Wäsche, während Tante Charlene vor dem Fernseher saà und immer dicker wurde.
Die Hunde Scooter und Rip waren meine Freunde geworden, weil ich es war, die sie regelmäÃig fütterte und ihnen frisches Wasser gab. Ich nahm mir auch hin und wieder Zeit, ihnen die Zecken von der Haut zu zupfen, die sie sich beim Herumstromern einsammelten.
Wenn meine Tante eingekauft hatte, kochte ich, aber wir aÃen nie gemeinsam. Jeder nahm sich, was er wollte, und aÃ, wann er Hunger hatte. Charlene nahm sich ihren Teller meist mit auf die Couch im Wohnzimmer. Wenn Marlin zu Hause war, fläzte er sich neben seine Mutter.
Ich aà oft alleine am Küchentisch, denn mein Vater tauchte selten rechtzeitig zum Abendessen auf. Er arbeitete wie ein Besessener. Doch meine Tante erwartete natürlich, dass wir uns an den Strom-, Gas- und Wasserkosten beteiligten, und so blieb nie viel von seinem Lohn übrig.
Anfang August ging unser Truck mal wieder kaputt, und diesmal war es keine Kleinigkeit. Die Reparatur verschlang alles, was mein Vater zusammengespart hatte. Als er es mir schweren Herzens erzählte, wurde mir plötzlich ganz kalt. Dad sah erschöpft aus, er wirkte mutlos. Die Angst vor der Zukunft stach in meinem Nacken wie Nadelspitzen.
Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Dad würde nie genug Geld verdienen, um uns ein Haus zu bauen. Ich war den Tränen nahe, aber ich kämpfte sie zurück, um ihn nicht noch unglücklicher zu machen. Ich konnte es kaum ertragen, ihn so verzweifelt zu sehen.
Die Arme um seinen Hals geschlungen, sagte ich: »Wir schaffen das schon, Dad.«
Er drückte mich an sich. »Ja, Braveheart«, sagte er. »Irgendwie schaffen wir es.«
Es hörte sich nicht sehr überzeugend an.
An diesem Abend, als wir in unseren Betten lagen, offenbarte mir mein Vater, dass er sich entschlossen hatte, am alljährlichen Sonnentanz von Bernhard White Elk im Hells Canyon in den Black Hills teilzunehmen, in der Hoffnung, dass Wakan Tanka ihm einen Weg aus dieser misslichen Situation weisen würde.
Zum ersten Mal seit dem Brand unseres Trailers gab es wieder etwas, worauf ich mich freuen konnte. Ein Sonnentanz war ein groÃes traditionelles Ereignis, und ich hoffte, dass auch Adena mit ihrer Familie dort sein würde, denn Bernhard White Elk, der Medizinmann, war ihr GroÃvater.
Vorbereitungszeit und Aufräumarbeiten eingerechnet, würde der Sonnentanz eine Woche dauern. Eine ganze Woche, die ich fern von Marlin und Tante Charlene verbringen konnte. Eine ganze Woche zusammen mit Adena, die ich in den vergangenen Tagen nur zweimal gesehen hatte. Und die winzige Hoffnung, dass Wakan Tanka die Bitten meines Vaters erhören würde, wenn er tanzte und
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