Talitha Running Horse
eine Extraration.«
Ich schluckte. Neil würde also tatsächlich am Big-Foot-Ritt teilnehmen â etwas, wovon ich nur träumen konnte.
»Du reitest den Hengst?«, fragte ich voller Bewunderung.
»Ja. Taté ist jetzt mein Pferd. Pa hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt.«
Neil war jetzt 17. Ernst und stark wie ein junger Krieger. Ich hätte ihm gerne gezeigt, wie sehr ich ihn mochte, aber dann hätte er sich vielleicht wieder zurückgezogen und das wollte ich nicht. Im Augenblick kamen wir ganz gut miteinander aus, wobei ich immer darauf bedacht war, ihm nicht auf die Nerven zu gehen.
»Ich würde auch gerne mitmachen bei diesem Ritt«, sagte ich sehnsüchtig. »Davon träume ich schon lange.«
»Na ja«, meinte Neil trocken, »reiten kannst du ja. Aber für den Ritt brauchst du ein gutes Pferd, eines, das kräftig genug ist, um die Kälte auszuhalten. Aber das Wichtigste ist, dass du deinem Pferd vertrauen kannst und dass das Pferd dir vertraut. Sonst kannst du die Sache gleich vergessen. AuÃerdem brauchst du einen Transporter, der dein Pferd nach Eagle Butte bringt, ins Standing-Rock-Reservat, wo der Ritt startet. In unseren Pferdeanhänger passen aber nur zwei Pferde.«
Ich senkte traurig den Kopf. Ich hatte kein Pferd und schon gar kein Geld für einen Transporter. An diesem Ritt teilzunehmen, war einer meiner vielen Träume, die zu den unerfüllbaren gehörten. Aber ich würde weiterträumen, um die Realität wenigstens hin und wieder zum Schweigen zu bringen.
Neil stupste mich mit der Faust unters Kinn und sagte: »Nun lass mal den Kopf nicht hängen, Tally. Vielleicht lässt sich ja im nächsten Jahr was machen.«
Ich nickte, war aber davon überzeugt, dass er mich bloà trösten wollte.
Stormy zog ihre Nase aus dem Heu und kam zu mir herüber. Sie knabberte an den Knöpfen meiner Jacke, und ich musste lachen, weil ihre Mähne voller Moos und Grashalme war.
Neil hielt mir den Futtersack hin, und ich nahm eine Hand voll Körner für Stormy heraus. Ich schlang meine Arme um ihren Hals, vergrub meine Nase in ihrem dichten Winterfell und flüsterte: »Eines Tages werde ich mit dir auf den Spuren meiner Vorfahren reiten, hörst du?«
Mitte Dezember brachen Tom und Neil nach Norden auf, um mit vielen anderen Reitern am Big-Foot-Ritt teilzunehmen.
Beinahe jeden Tag lief ich zu Della hinüber. Während ich mit Bey und April und Miss Lillys Kätzchen spielte, lieà ich mir von Neils Mutter erzählen, wo die Reiter gerade waren und wie es ihnen in der eisigen Prärie auf den Rücken ihrer Pferde erging.
Bei Della war es gemütlich, und ich bekam fast immer einen Becher heiÃe Schokolade. Manchmal half ich ihr Stoffreste zuzuschneiden, denn Della Thunderhawk konnte wunderschöne Quilts nähen. Das Rattern ihrer Nähmaschine wurde zu einem vertrauten Geräusch, und manchmal nahm sie sich sogar die Zeit, mir etwas zu zeigen.
Ich hatte das Lachen wiedergefunden, und das Leben in Tante Charlenes Haus war zu einer Art Alltag geworden. Dad rief nun nicht mehr so oft an. Er wollte das Geld lieber sparen. Ich versuchte nicht mehr rund um die Uhr an ihn zu denken, und es gab Tage, wo mir das tatsächlich gelang.
In einer Nacht, es war eine Woche vor Weihnachten, erwachte ich von einem merkwürdigen Schmerz, einem unangenehmen Ziehen im Bauch. Als ich Licht anmachte und aufstand, entdeckte ich einen kleinen Blutfleck auf dem Laken. Ich hatte meine Periode bekommen. Schon so lange hatte ich dieses Ereignis herbeigesehnt, und nun war es auf einmal eingetreten. Zum Glück hatte ich vorgesorgt und schon seit einiger Zeit ein Päckchen Monatsbinden im Schrank aufbewahrt.
Ich wechselte das Laken und mein Nachthemd, und als ich wieder im Bett lag, im Dunkel meines Kellerzimmers, fühlte ich mich so allein wie noch nie zuvor. Ganz still und leise hatte mein Körper begonnen sich zu verändern. Aber niemand war da, dem ich es erzählen konnte, niemand, der mich in den Arm nehmen würde.
Was diese Dinge anging, war Dad immer unkompliziert und offen gewesen, und nun vermisste ich ihn mit der ganzen Kraft meiner Sehnsucht.
Als er das nächste Mal anrief aus San Francisco, überlegte ich, ob ich es ihm erzählen sollte. Doch sosehr ich mich freute, seine Stimme zu hören, ich spürte auf einmal, dass die alte Vertrautheit, die immer zwischen uns bestanden hatte, nicht
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