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Talitha Running Horse

Talitha Running Horse

Titel: Talitha Running Horse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Biegung hatte die Form eines umgedrehten S. Ich sah erleuchtete Tipis stehen und dahinter einen kahlen schwarzen Stamm, der seine verkrüppelten Zweige in die Höhe streckten wie Geisterarme.
    Ein großes Feuer brannte, und seine hellen Flammen loderten weit in den Himmel, als wollten sie eins werden mit den Sternen. Menschen in bemalten Lederhemden tanzten nach dem Rhythmus der Trommel am Feuer. Sie tanzen auf der Stelle, die Gesichter erleuchtet von den Flammen.
    Als die Ankömmlinge das Feuer erreicht hatten, begannen sie, sich den Tanzenden anzuschließen. Sie waren hungrig und müde, aber abgesehen von den Kindern tanzten sie alle. Auch ich fühlte mich angezogen vom Klang der Trommel. Sie rief mich.
    Doch als ich ihrem Ruf folgen wollte, wachte ich auf.

20. Kapitel
    Ende April war der Winter immer noch nicht vorbei. Auch wenn die Sonne tagsüber schon wärmte, die Nächte waren noch empfindlich kalt. In den Senken und Tälern lagen Reste von schmutzig grauem Schnee.
    Nie war mir ein Winter so lang vorgekommen wie in jenem Jahr. Mehrmals am Tag blickte ich sehnsüchtig in den Himmel und hielt Ausschau nach einem Kranich, der nach Norden flog und damit das Ende des Winters ankündigte.
    Ich wartete darauf, dass die Wärme der Sonne die Prärie zu neuem Leben erweckte. Ich wartete darauf, dass mein Vater endlich zurückkehrte.
    Mai, hatte er geschrieben. Ich zählte die Tage, ohne zu wissen, bis wohin ich zählen sollte. Aber lange konnte es nun nicht mehr dauern. An einem Nachmittag beschloss Tante Charlene mit mir nach Manderson zu fahren, um in Bernies Laden Lebensmittel einzukaufen und die Wäsche zu waschen, die sich bergeweise angesammelt hatte. Ich half ihr, die beiden vollen Wäschekörbe ins Auto zu tragen, dann fuhren wir los.
    Nachdem zwei Waschmaschinen beladen und mit Vierteldollarmünzen bestückt waren, schickte Charlene mich auf das Postamt gegenüber, um die Post zu holen.
    Â»Hallo Tally«, sagte Norma, die Postbeamtin, als sie mir vier Briefe aushändigte. Ich freute mich, als ich sah, dass einer von meinem Vater war.
    Â»Alles okay mit deinem Dad?«, fragte sie und hatte auf einmal einen mitleidigen Ausdruck im Gesicht.
    Â»Ich hoffe es«, sagte ich. »Bestimmt schreibt er, wann er nach Hause kommt.«
    Â»Na dann viel Glück«, sagte Norma.
    Ich lief zurück zum Laden und brachte Tante Charlene die übrige Post. Dann setzte ich mich draußen auf das Holzgeländer. Erst als ich Dads Brief öffnen wollte, sah ich den roten Stempel auf der Vorderseite. Ich las den Aufdruck und wäre vor Schreck beinahe vom Balken gefallen. Dads Brief kam aus einer Haftanstalt in Kalifornien, einem Staatsgefängnis.
    Mit zitternden Fingern riss ich ihn auf und las.
    Meine liebe Talitha,
    du wirst einen furchtbaren Schock bekommen haben, als du den Absender meines Briefes gelesen hast. Leider kann ich dich nicht beruhigen, denn es ist wahr: Dein Vater sitzt im Gefängnis.
    Ich werde beschuldigt, meinem Chef 20 000 Dollar gestohlen zu haben. Das alles ist ein großes Missverständns. Ich würde nie jemanden bestehlen. Ich bin sicher, du weißt das. Das Geld ist verschwunden, jemand hat es genommen, aber ich war es nicht. Ich hoffe, dass sich die ganze Sache schnell aufklärt und ich zu dir nach Pine Ridge zurückkommen kann.
    Tante Charlene wird vermutlich nicht an meine Unschuld glauben. Hör einfach nicht hin, wenn sie mich oder dich schlecht macht. Ich will versuchen, im Gefängnis zu arbeiten und euch weiter Geld zu schicken. Aber es wird nicht mehr so viel sein.
    Sei tapfer, Braveheart, ich komme bald. Das ist ein Versprechen. In Liebe, dein Dad
    Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen, während ich den Brief wieder und wieder las.
    Das war nicht möglich. Es konnte einfach nicht wahr sein. Mein Vater, der ehrlichste Mensch, den ich kannte, saß im Gefängnis, weil er ein Dieb sein sollte.
    Nun war ich wirklich allein. Diese neue Erkenntnis schien mir unerträglich. Als ich den Kopf hob, sah ich durch den Schleier meiner Tränen eine Gestalt vor mir stehen. Ich wischte mit dem Jackenärmel über meine Augen. Es war Leo Little Moon. Wahrscheinlich hatte er mich durch die Scheibe des Ladens beobachtet und sich Sorgen gemacht.
    Â»Was ist denn los, Tally?«, fragte er bestürzt, als er mein tränenüberströmtes Gesicht sah.
    Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht

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