Talitha Running Horse
er mir einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich.
»Halt dich tapfer, Tally«, sagte er. »Dein Vater ist bestimmt schnell wieder drauÃen. Und wenn du Hilfe brauchst, dann ruf mich an. Die Nummer hast du ja.«
Tante Charlene schimpfte wie eine alte Rohrdrossel, als sie endlich über mich herfallen konnte. Sie glaubte natürlich nicht im Geringsten daran, dass Dads Verhaftung nur ein Missverständnis war. Charlene war fest davon überzeugt, mein Vater hätte das Geld genommen, weil er endlich ein Haus kaufen wollte.
»Ehrliche Arbeit war ihm wahrscheinlich zu mühsam«, zeterte sie.
»Er wollte schneller ans Ziel kommen, auf seine Art. Nun muss er dafür büÃen.«
»Dad ist kein Dieb«, sagte ich. »Niemals. Er ist ein Sonnentänzer.«
Charlene lachte bitter und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du glaubst auch noch an solche Märchen, Kind. Das ist doch alles bloà Getue. Sonnentanz, tapfere Krieger, schnelle Reiter. Diese Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Und bloà weil einer ein Sonnentänzer ist, heiÃt das noch lange nicht, dass er nicht stehlen würde, wenn die Not groà ist. Dein Vater hat es nicht mehr ausgehalten, von dir getrennt zu sein. Deshalb hat er es getan.«
Nun machte sie auch noch mich für alles verantwortlich, das war typisch für Tante Charlene. Dad war schuldig in ihren Augen, und ich war es auch.
Später, in der Abgeschiedenheit meines Kellerzimmers, nahm ich eine Schere und schnitt meinen langen Zopf ab. Unsere Vorfahren taten das, wenn jemand, den sie liebten, gestorben war. Ich tat es, weil ich das Gefühl hatte, dass an diesem Tag meine Träume gestorben waren.
Den Zopf steckte ich in eine Tüte, weil ich ihn am nächsten Tag verbrennen wollte. Meine Haare reichten jetzt nur noch bis auf die Schultern â und wellten sich mehr als zuvor.
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag im Bett und dachte über die Möglichkeiten nach, die mir blieben. Nach Kalifornien trampen vielleicht, wie ich es schon einige Male vorgehabt hatte, wenn das Leben in Charlenes Haus mir unerträglich erschienen war. Mir eine Stellung als Hausmädchen suchen (dann würde ich wenigstens für meine Arbeit bezahlt werden), und Dad sooft es ging im Gefängnis besuchen.
Ob Stormy mich vermissen würde, wenn ich nicht mehr kam?
Ich trug mich mit dem Gedanken, meinem Vater einen Rechtsbeistand zu besorgen. Dabei dachte ich an Arnold Colder, den jungen Anwalt aus Kalifornien, der WeiÃe, der beim Sonnentanz im Hells Canyon unter den Tänzern gewesen war. Ob er bereit sein würde, einen Mann zu verteidigen, der keinen Cent für seine Verteidigung bezahlen konnte?
Ich rollte das Kissen unter meinem Kopf zusammen und verschob es ein wenig, weil es schon ganz feucht war von meinen Tränen. Und plötzlich wusste ich: Ich würde nicht davonlaufen, nein. Das war keine Lösung. Ich glaubte immer noch daran, dass eines Tages alles besser werden würde. Und auch wenn ich dazu verdammt war, unter einem Dach mit Tante Charlene und meinem Cousin Marlin zu leben, so hatte ich doch Leo, der sich um mich sorgte. Ich hatte Della, Tom, Neil und die Mädchen. Ich hatte Adena. Und Stormy natürlich.
Am nächsten Tag beschäftigte mich Tante Charlene wie gewohnt den ganzen Vormittag im Haus. Ich wusch ab, wischte das Badezimmer, legte die Wäsche, leerte die Abfalleimer und fütterte die Hunde, die auch noch ein paar Streicheleinheiten bekamen.
Die Tüte mit meinem Zopf hatte ich schon in der Jackentasche, aber ich kam nicht dazu, sie zu verbrennen.
Gegen Mittag kam Marlin aus seinem Zimmer geschlichen. Er sah blass und verquollen aus, als hätte er geweint. Vermutlich hatte er Drogen genommen. Tante Charlene ignorierte das Aussehen ihres Sohnes, genauso, wie sie seine zwielichtigen Freunde ignorierte.
Stattdessen erzählte sie ihm sofort, dass sein Onkel im Gefängnis saÃ, weil er Geld von seinem Chef gestohlen hatte.
»Dann kann er also nichts mehr schicken«, war alles, was Marlin dazu sagte.
»Im Knast bekommen die auch Geld«, erwiderte Charlene. »Dann muss er eben alles schicken, was er hat.«
Marlin schlang einen Teller Spagetti mit TomatensoÃe hinein, dann machte er sich auf den Weg zur StraÃe, wo ihn seine Kumpels abholen und wer weià wohin mit ihm fahren würden. Wenn ich seine Mutter wäre, ich würde wissen wollen, wo
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