Talitha Running Horse
mein Sohn sich herumtreibt und vor allem, mit wem, dachte ich. Aber Tante Charlene schien froh zu sein, dass Marlin weg war, und verzog sich wie gewohnt auf ihre Couch.
Seit jener Nacht im Dezember, als wir auf so ungewohnte Weise miteinander geredet hatten, lieà Marlin mich in Ruhe. Er schnüffelte nicht mehr in meinem Zimmer herum, benutzte die Toilette im Keller nicht mehr, und es schien, als hätte er den Spaà daran verloren, mich zu ärgern. Wir redeten nie wieder über persönliche Dinge. Aber wenn wir einander etwas zu sagen hatten, geschah es in einem ganz normalen Ton.
Nur manchmal, da bedachte mein Cousin mich mit einem Blick, der mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Es war ein Blick voller Kummer und Resignation. Ein Hilferuf â doch ich wusste nicht, wie ich helfen sollte.
Nachdem Marlin gegangen war, machte ich zum zweiten Mal den Abwasch und räumte die Küche auf. Tante Charlene saà im Wohnzimmer, in ihre Seifenoper vertieft. Sie würde auch den Nachmittag und den Abend auf diese Weise verbringen.
Ich zog mich warm an und schlüpfte nach drauÃen. Scooter und Rip hatte ich beigebracht, dass sie nicht bellen sollten, wenn ich das Haus betrat oder verlieÃ. Dafür bekamen sie hin und wieder einen kleinen Leckerbissen von mir.
Schnell eilte ich davon, bevor meine Tante etwas bemerkte, mich zurückrufen und mir noch mehr Hausarbeiten aufbrummen konnte. Ich schlüpfte unter den Drahtzäunen hindurch und sah in der Ferne die Pferde grasen. Sie hatten ein Stück Wiese gefunden, auf dem die Sonne das erste frische Grün hervorgebracht hatte, und zupften dort an den Halmen.
Stormy wieherte freudig, als sie mich kommen sah, und auch die anderen Tiere hoben ihre Köpfe. Der gefleckte Hengst war nicht bei ihnen, also musste Neil mit ihm ausgeritten sein. Seit Psitós Tod im Winter hatte ich auf keinem Pferderücken mehr gesessen, und jetzt spürte ich, wie ich mich danach sehnte. Seit Neils Bericht vom Big-Foot-Ritt wünschte ich mir so sehr mit Stormy im nächsten Winter daran teilzunehmen. Sie war nun groà und kräftig genug, um eingeritten zu werden.
Stormy leckte vom Salz, dass ich ihr gab, und sie folgte mir, als ich weiterlief. Mit leiser Stimme erzählte ich ihr von meinen Plänen. Wie immer erwies sich Stormy als gute Zuhörerin. Manchmal schnaubte sie leise, vielleicht vor Empörung oder aus Mitleid mit mir. Sie zupfte an meinem Ãrmel, und ich gab ihr noch ein paar Krümelchen Salz, die sie lecken konnte.
»Ich werde dich reiten, Stormy«, sagte ich. »In diesem Sommer werde ich auf deinen Rücken steigen und du wirst mich durch die Hügel tragen. Und im Winter werden du und ich am Big-Foot-Ritt teilnehmen. Es muss klappen, ich werde schon eine Möglichkeit finden.« Stormy blieb stehen und scharrte mit einem Huf im Gras.
»Was ist denn?«, fragte ich. »HeiÃt das: Ja, Tally, du wirst mich reiten, und ich werde dir gehorchen? Oder bedeutet es: Nein Tally, auf mir wird nie jemand reiten, auch du nicht?«
Die Stute hob den Kopf und wieherte. Dann nickte sie mehrmals.
»Ach Stormy«, sagte ich, »du lässt mich nicht im Stich, wie mein Dad es getan hat.« Als ich das sagte, liefen mir erneut Tränen über die Wangen. Ich hatte das Gefühl, in einem Strom zu stehen und fortgerissen zu werden, haltlos umhergeschleudert von Kräften, die so viel stärker waren als ich.
21. Kapitel
Auf einmal hörte ich dumpfe Hufschläge und blickte auf. Es war Neil, der mit Taté auf mich zugeritten kam. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Aber er sah natürlich, dass etwas nicht stimmte, als er bei mir und Stormy angelangt war.
»Was ist denn los?«, fragte er und lieà sich vom Rücken des Hengstes gleiten. »Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht, Tally?«
Hätte ich versucht, auch nur ein Wort zu sagen, wäre ich erneut in Tränen augebrochen. Ich schämte mich natürlich, ihm zu erzählen, dass mein Vater im Gefängnis war. Aber Neil kannte mich zu gut. Er wusste, dass ich nicht ohne Grund Tränen vergoss oder gar auf die Idee kam, mir die Haare abzuschneiden. Er merkte, dass er vorsichtig sein musste, aber er lieà auch nicht locker.
»Kannst du oder willst du es mir nicht erzählen, Tally?«
Ich blickte in seine wachsamen schwarzen Augen und sah, dass er es ehrlich meinte. Neil wollte wissen,
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