Talivan (German Edition)
nachzudenken, was vor ihr lag; zu sehr war sie immer mit der ungewohnten Anstrengung des Reitens und der ständigen Furcht beschäftigt gewesen, ihre Häscher könnten sie einholen. Dass sie verfolgt wurde, daran b e stand nun kein Zweifel mehr. Fraglich war nur, wie lange sie ihnen entkommen konnte und wann, falls überhaupt, i h re Verfolger aufgeben würden. Sie kannte den Norden nicht, hatte nur von einem gerechten und milden König g e hört, der dort herrschen solle. In jedem Fall könnte sie j e doch, sobald sie eine größere Stadt erreichte, wieder ihrem erlernten Gewerbe nac h gehen und musste sich nicht länger das Lebensnotwendigste auf solch unwürdige – und gefährliche, wie das Mal auf ihrer Stirn nur al l zu deutlich verriet – Weise verdienen. Dabei konnte sie noch von Glück r e den, dass schon Jahre zuvor die alte Sitte, Dieben eine Hand abz u schlagen, verboten worden war. Sie war sich des Risikos durchaus bewusst gewesen, doch welche Wahl war ihr geblieben, nachdem niemand mehr ihre kunstvollen Schmuckstücke hatte erstehen wollen? Zunächst w a ren nur die Edlen der Stadt ausgeblieben, dann die reicheren Kau f leute, bis schließlich niemand mehr kam. Wenn nur dieses unsinnige Gerücht …
Sie schalt sich eine Närrin und verdrängte diese Gedanken. Niemand vermochte die Vergangenheit zu ändern. Die Dinge waren, wie sie waren, und sie konnte sie nicht u n geschehen machen. Dennoch fragte sie sich auch jetzt wieder, ob sie ihre Strafe nicht hätte hinnehmen und im Anschluss daran die Stadt unbemerkt hätte verlassen sollen. Aber nein, nur zu gut wusste sie, was nicht nur des nächtens mit denen geschah, die an den Pranger gestellt wurden. Eine menschenwürdigere Strafe hatte der Fürst an die Stelle des Hand-Abschlagens setzen wollen. Doch hatte sie zu viele jener gesehen, die von der Zeit gebrochen waren, während derer sie glasigen Blickes, unter sengender Sonne und in frostkalter Nacht, zur Regungslosigkeit ve r dammt in ihren hölzernen Fesseln knieten. Während Mörder sogleich hi n gerichtet wurden, durfte mit Dieben und anderen Gesetze s brechern jeder Vorübergehende tun, was er wollte. Und nur Kinder begnügten sich damit, faules Obst zu werfen. Sp ä testens in der Nacht, wenn ein Schatten dem anderen glich, entdeckten zu viele der braven Bürger die Freude an den Schmerzen und dem Leid anderer.
Nein, sie hätte nicht bleiben können. Selbst wenn am Ende ihrer Flucht nur der Tod stehen sollte, konnte dieser doch nicht viel schlimmer sein als das, was sie erwartet hätte, hätte sie nicht die Gelegenheit in Form dieser Stute e r griffen. Sie seufzte leise und atmete tief durch. Es war an der Zeit, dass sie ihren Weg fortsetzte.
Bevor sie die Augen geöffnet hatte, hörte sie neben sich ein leises Geräusch. Erschrocken drehte sie den Kopf, um e r leichtert aufzuatmen.
„Warum musst du mich immer so erschrecken?“, fragte sie die Krähe tadelnd, ehe sie beschwichtigend hinzufü g te: „Ja, einen besonders schönen Wurm hast du da gefangen …“
Sie musste lachen, als ihr bewusst wurde, dass sie mit dem Vogel wie mit einem Kinde sprach. Die Rabenkrähe hüpfte näher heran, bis ihr Schnabel über der auf den Boden g e stützten Hand der Frau war, und ließ den Wurm fallen. Dann sah der Vogel sie fast erwartungsvoll an.
„Oh nein“, sagte die Frau lächelnd, „das ist nichts für mich. Ich danke dir, aber dies rohe Tier ist nicht die richtige Spe i se für einen Menschen.“
Die Krähe drehte sich herum und hüpfte ein Stück weiter, wo sie wiederum den Boden zu durc h forsten begann.
„Nur Pilze und Beeren allerdings auch nicht“, fügte die Frau mit leisem Hohn hinzu. Nur einen Moment lang b e trachtete sie den Wurm, der zumindest schon tot schien, bevor sie ihn nahm und, ohne zu kauen, hinunterschluckte.
„Gar nicht mal schlecht“, murmelte sie, wobei Er d krümel zwischen ihren Zähnen knirschten. Als die Krähe ihr einen weiteren Wurm entgegenhielt, stand sie dennoch auf und ging zu ihrer Stute. Es war an der Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Sie klopfte ein paar Gräser und kleine Ästchen von ihrem Rock und schwang sich in den Sattel. Ein letztes Mal sah sie sich nach der Krähe um – „Nein!“, entfuhr es ihr.
Der Vogel schloss den Schnabel wieder.
„Was willst du? Keinen einzigen Ton hast du von dir g e geben, solange ich hier gesessen habe, und nun, wo ich fast damit rechnen muss, dass meine Verfolger sich wieder in Hörweite befinden, willst
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