Talivan (German Edition)
ertragen – das hatte sich leicht gesagt, als sie keine Zeit zum Denken gehabt oder die Gefahr weit genug hinter sich geglaubt hatte. Doch nun –
Es war die Krähe, die ihr die Entscheidung abnahm. Langsam begann sie ihre Flügel zu b e wegen, dann immer schneller, bis sie sich schwankend in die Luft erhob; g e rade hoch genug, um schwer auf dem Kopf der Frau landen zu können.
„Verdammter Hexendiener!“, hörte sie einen der Männer murmeln. Sie spürte, wie der Vogel erneut die Schwingen ausbreitete.
Selbst im Gesicht des Anführers zeigte sich für einen M o ment Furcht. Dann gewann er die Beherrschung wieder. „Los, greift sie!“, befahl er. Langsam rückten die beiden anderen vor, und auch hinter sich hörte die Frau B e wegungen.
Und die Krähe schrie. Nackte Angst stand in den G e sichtern der Männer geschrieben. Ohne darüber nachz u denken, begann die Frau mit den Augen zu rollen, erhob langsam beide Arme, wie sie es damals, in den Kinde r spielen von bösen Hexen und guten Rittern, getan hatte, und entrang i h rer Kehle einen unmelodischen Singsang, in dem sie unbekannte Silben zu unsinnigen Worten a n einanderreihte. Es war u n möglich, die Männer auf diese Art zu verjagen, und die Frau wusste es genau. Zu sehr piepste ihre Stimme, zu hektisch waren ihre B e wegungen, als dass ihre Darbietung glaubwürdig hätte sein können. Und doch funktionierte es. Einer der Männer hinter ihr stieß einen Schrei aus, und sie hörte die beiden Reiter in wildem Galopp davonjagen. Ein weiteres Mal schrie die Krähe so markerschütternd, dass die Frau fast vergessen hätte, weiter zu singen und die Finger beschwörend zu b e wegen.
„Ranulf hat uns nicht gesagt, dass wir eine wir k liche Hexe jagen“, sagte einer der Männer tonlos. „Soll er doch selbst seine Kräfte mir ihr messen.“
„Er wird ihr wenigstens ebenbürtig sein“, fügte ein anderer stockend hinzu.
Ein letzter, fast hilfloser Blick des Anführers zu seinen verbliebenen Männern – und wie auf ein geheimes Ko m mando hin rissen alle drei ihre Pferde herum und stoben davon.
Lange saß die Frau nur schweigend im Sattel, unfähig zu einer Entscheidung. Ihre Verfolger waren nun vor und hinter ihr. Und sie waren nicht das Schlimmste, was sie erwa r tete.
Nachdem sie langsam, wie bei dem Erwachen aus einem bösen Traum, wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte, hielt sie der Krähe den Arm hin, um sie wieder auf dem Sattelknauf abzusetzen. Der Vogel schien nach der Anstrengung, die ihn der kurze Flug gekostet haben musste, fast zu schwach, sich weiterhin auf dem Leder fes t zuha l ten, und so ließ sie ihn wieder auf ihren Arm und stützte ihn mit dem anderen Arm und ihrem Körper ab, um zu vermeiden, dass sich die scharfen Krallen durch den dü n nen Stoff des Hemdes in ihre Haut bohrten.
Erst einige Zeit später, nachdem sie langsam durch die ewig gleich aussehenden Wälder weiter nach Norden g e ritten waren, kam ein leises „Danke“ über ihre Lippen. Für einen Moment glitten ihre Finger leicht über das weiche, warme Gefieder der Krähe, bevor sie sich wieder z u sammennahm.
„Ich hätte nicht fliehen dürfen“, sagte sie laut. „Zumindest nicht ausgerechnet auf diesem Pferd.“
Die Rabenkrähe drehte ihren Kopf leicht, bis sie die Frau ansehen konnte.
Sie musste des Wahnsinns gewesen sein, das Eigentum e i nes Zauberers – denn nur so konnte sie die Worte des einen Reiters auslegen – zu stehlen. Dieser mochte es z u nächst als unter seiner Würde angesehen haben, die Diebin selbst zu stellen, doch würde ihm nun nichts anderes mehr übri g bleiben, wenn er sein Gesicht nicht verlieren wollte. Und einen erzürnten Magier zum Feind zu haben, das war, auch ohne das ängstliche Geflüster der alten Weiber zu glauben, schlimmer als der Pranger; ein weit schmer z licherer Tod als der durch ein Schwert. Hätte sie eine Waffe besessen, hätte sie wahrscheinlich nun darüber nachgedacht, sie g e gen sich selbst zu richten, doch so fehlte ihr neben dem Mut auch die Möglichkeit hierzu.
„Lange werden wir wohl nicht mehr gemeinsam reisen können“, sagte sie tonlos zu der Krähe. Nur ein leises, plapperndes Krächzen antwortete ihr.
„Willst du mich aufmuntern, indem du mir ein Lied vo r trägst?“, fragte die Frau mit müdem Lächeln. „Oder soll ich dir noch etwas erzählen während der letzten Stunden oder Minuten, die wir zusammen sind?“
Sie sah den Vogel sinnend an, bevor sie weite r sprach: „Nun gut,
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