Talk Talk
kleinen Tochter.
Das Haus hatte sich gar nicht verändert, jedenfalls konnte er nichts feststellen. Vielleicht waren ein paar Bäume größer und die Unkrautbüschel am Rand des Rasens dichter geworden. Er stand an der Tür des Wagens, beleuchtet von einem Sonnenstrahl, der wie ein Scheinwerfer war, in einer Hand eine Pralinenschachtel, in der anderen die Blumen, und musterte das Haus, während Natalia noch einmal mit der Bürste über ihr Haar fuhr und ihn warten ließ. Sein Vater hatte immer maßlos viel Zeit und Geld in das Haus gesteckt, hatte den Anbau mit dem gemauerten Kamin errichtet, einen neuen Vorgartenweg aus Beton gegossen, alle drei, vier Jahre die Fassade und alle zwei Jahre die Fenster und Rahmen gestrichen, als könnte er so die Zeit aufhalten, und obwohl er jetzt seit zwölf Jahren tot war, konnte man die Früchte seiner Arbeit noch immer erkennen. Natürlich hatte der Verfall eingesetzt, das war unvermeidlich. Seine Mutter machte sich darüber gewiß keine Sorgen – solange ihr das Dach nicht auf den Kopf fiel, würde sie mit ihren aufgedunsenen Freundinnen und einem Wodka-Collins frohgemut vor dem Fernseher sitzen und sich nicht weiter daran stören, daß die Wasserflecken rings um den Kamin, wo sein Vater trotz bester Absichten die Dichtungsbleche falsch montiert hatte, immer größer wurden.
»Gut«, sagte Natalia und stieg aus. Schultern und Brüste gereckt, sah sie schön und gebieterisch aus und warf den Kopf zurück, so daß ihr Haar sich wie ein Lichtfächer ausbreitete und perfekt über die makellos weiße Haut ihrer nackten Schultern fiel. Und die Knochen, die feinen Knochen. Die Schulterblätter, die Muskeln und Sehnen, die sich unter der Haut abzeichneten. Er verlor sich kurz in einem Augenblick der Erkenntnis, in dem er sie sah wie ein Bildhauer, ein Genie der Form- und Liniengebung, der, einen Hammer in der Hand, vor einem Block Marmor stand. »Und?« Sie sah ihn ihn auffordernd an, mit einem Blick, der fragte: Bin ich schön? Bin ich bereit? Begehrst du mich?
»Ja«, sagte er, »ja, ja, du siehst phantastisch aus.« Sie bot ihm ihren Arm, und gemeinsam gingen sie auf die Haustür zu – das Natürlichste in der Welt, alles war, wie es sein sollte –, und dann sah er, wie die Fliegentür aufschwang. Da war seine Mutter, mit der Nase, die er jeden Morgen im Spiegel sah, und ihr Haar war silbergrau und fiel fließend bis auf Kinnhöhe, so daß sie aussah wie eine Fremde in einem Stummfilm, und neben ihr stand eine zweite Gestalt, klein und zierlich und mit dem unversöhnlichen Blick und der blassen, strengen Miene eines gnadenlosen Richters.
FÜNF
Es war illusorisch, Wahrheit, Gerechtigkeit und eine endgültige Lösung zu erwarten, wie sie die offiziell anerkannten Opfer auf dem kleinen Bildschirm, unter deren grimmigen, angespannten Gesichtern die Untertitel nüchtern abliefen, immer forderten, und sie gab sich mehr als andere dieser Illusion hin. Das Leben war enttäuschend. Es hörte nie auf zu enttäuschen. Wie konnte es auch anders sein? Das war es, was Dana dachte, als sie im Regen im Vorgarten eines fremden Hauses stand und beobachtete, wie Bridger auf der obersten Stufe vor der Haustür stand und klopfte. Als Frank Calabreses Faust mit der unverfälschten, unbezähmbaren Kraft der Rachsucht und ihren verheißungsvollen Möglichkeiten auf die Theke donnerte, war sie sicher, daß sie sich dem Ziel näherten. Er kannte den Dieb. Er kannte seinen echten Namen. Er wußte, wo er wohnte. Und zehn Minuten später standen sie vor Peck Wilsons Haus – dem Haus, in dem er aufgewachsen war und in dem seine Mutter noch immer lebte. Als Bridger und sie ausstiegen, regnete es, jeder einzelne Grashalm war scharf umrissen und leuchtendgrün, die Zweige der Bäume krümmten sich wie Klauen, und Danas Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Bridger klopfte an die Tür, der Himmel verdunkelte sich, als wollte der Abend schon am Nachmittag hereinbrechen, und dann... nichts. Niemand zu Hause. Keine lautlosen Schritte, keine lautlose Bewegung des Türknopfs, kein nur vorgestelltes Quietschen der Angeln, kein Gesicht hinter dem dunklen Fliegengitter, das wie das Gitter in einem Beichtstuhl, wie der Schleier der Maya war. Nichts dergleichen. Niemand zu Hause.
Sie sah Bridger von einem Bein auf das andere treten. Er war blaß, die Oberlippe und die Partie unter der Nase waren angespannt. Er klopfte abermals und wartete mit zur Seite geneigtem Kopf und gesenktem Blick, als könnte er so besser
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