Talk Talk
antworten, bemerkte sie den Gipsverband am rechten Unterarm, und er sah wie eine Beschuldigung aus, wie ein anklagender Finger, ein Fluch. Geschlossene Hand, auf und ab: Ja . Und dann: Und du?
Sie nickte.
Haben sie ihn gekriegt?
Sie sah, wie sein Gesicht sich verdunkelte, wie die Farbe aus der Prellung wich und in das Kinn, die Wangen und die Partie rings um das offene Auge sickerte. Er kannte die Antwort bereits. Er wußte bereits, daß der Schmerz, die Erbitterung, die Wut, der Haß und die Besessenheit – ganz zu schweigen von der gebrochenen Elle und dem eingedrückten Kehlkopf – umsonst gewesen waren. Er sah es in ihren Augen.
»Er ist entwischt«, sagte sie, begleitet von Gebärden. »Aber sie haben seinen Wagen –«
Seinen Wagen? Ist das alles? Scheiße! Er schlug mit einem schnellen Zucken auf den Gips und wollte etwas sagen. Sein Auge starrte, seine Kiefer schnappten in die Luft, aber er konnte nichts sagen, das sah sie, das spürte sie. Bridger. Der Verband an seiner Kehle, der Gips an seinem Arm. Er war wütend, fuchsteufelswild, wütender, als sie ihn je erlebt hatte – gab er ihr die Schuld? Aber schon war seine Mutter da, schob sie grob beiseite und hämmerte auf den Rufknopf, und dann eilte eine Schwester herein und machte etwas mit Bridger, mit seinem Mund, seiner Kehle, seinem Schlund, was Dana nicht sehen wollte. Gerade als sie den Kopf abwendete, griff seine Mutter nach den Bettvorhängen und zog sie zu.
Lange saß sie neben Terri und starrte auf die weißen Falten des an dem Aluminiumgestell befestigten Vorhangs. Ihr war, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Sie fühlte sich ohnehin schlecht – ihre Schuld, alles ihre Schuld –, und jetzt wäre sie am liebsten im Boden versunken. Keine Angst , gebärdete Terri, er kommt wieder auf die Beine.
Sie antwortete nicht. Sie war zu bedrückt. Und müde. So müde, als hätte sie seit einer Woche nicht geschlafen. Plötzlich wurde es dunkler – draußen schob sich eine Wolke vor die Sonne –, und als sie aufsah, bemerkte sie das zweite Bett. Es war beinahe hinter den Blumenmassen verborgen, die Bridgers Mutter im Raum verteilt hatte und die, auf einer anderen Ebene, ebenfalls einen Vorwurf darstellten: Dana hatte nicht mal ein Gänseblümchen mitgebracht. Aber andererseits – wie hätte sie das bewerkstelligen sollen? Sie war doch genauso betroffen. Wußten sie denn nicht, daß sie jetzt tot sein könnte?
Auch der Vorhang um das andere Bett war zugezogen, doch durch einen Spalt am Fußende konnte sie sehen, daß jemand darin lag, erkennbar nur anhand von zwei gekreuzten Knöcheln und zwei nackten Füßen mit seitlich geneigten gelblichen Sohlen und zehn gelblichen Zehen, die wie überreife Früchte an den Gelenken hingen. Diese Zehen, diese anonymen Füße faszinierten sie, und ihr Blick glitt über die Aufmerksamkeit heischenden Blumen hinweg und musterten sie. Wer war hinter dem Vorhang? Ein auf sein Gehör angewiesener Voyeur, der stumm das Drama an Bridgers Bett verfolgte: die Rufe der Mutter, das Würgen des Patienten, das feuchte, fleischige Zischen, das die Handgriffe der Schwester begleitete. Er war kerngesund – das sah man an der Art, wie er die Knöchel gekreuzt hatte. Er war einfach hereingekommen und hatte sich hinter dem Vorhang versteckt, um alles mit anzuhören. Das dachte sie jedenfalls. Sie betrachtete die Füße und ließ sich von ihren Gedanken hinunterziehen, als sie das vertraute Vibrieren des Handys in ihrer Tasche spürte.
Es war eine SMS von ihrer Mutter. Peterskill Bahnhof , schrieb sie, 3:45 .
Terri sah ihr zu. »Deine Mutter?«
»Ja. Sie kommt mit dem Zug um Viertel vor vier.« Dana zuckte die Schultern und schlug die Augen nieder. »Ich werde sie wohl abholen müssen.«
Sie schwiegen kurz. Dann tippte Terri mit einem Finger auf Danas Handgelenk, und als diese den Blick hob, sagte sie: »Ich kann dich zu deinem Wagen fahren, wenn du willst. Weißt du noch, wo er steht?«
Mit einemmal sah sie die Straße vor sich, die schattenspendenden Bäume, die Risse im Bürgersteig, die Kinder auf ihren Fahrrädern – es war wie das Bühnenbild eines Dramas, das sie vor langer Zeit gesehen hatte. »Ja«, sagte sie und nickte bekräftigend.
Die Schwester trat hinter dem Vorhang hervor und öffnete ihn mit raschen Bewegungen aus dem Handgelenk. Auch die Mutter war wieder zu sehen und erhob sich von dem Stuhl neben dem Bett. Ihr Gesicht war angespannt, und ihre Augen sprangen sie an, als wollte sie sagen: Was
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