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Talk Talk

Talk Talk

Titel: Talk Talk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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zu kleinen Augen und die affenartige Schädelstruktur wie eine Halluzination auch dann vor Augen hatte, wenn er gar nicht auf den Bildschirm sah. Es war gut, daß seine Arbeit nicht die kleinste gedankliche Anstrengung erforderte, denn seine Gedanken waren von Drex III so weit entfernt wie nur möglich. Das ganze Wochenende über hatte er einzig an Dana gedacht: Dana in einer Zelle, verängstigt und verletzlich, irgendeinen Fraß aus einem Eimer essend, schikaniert, verspottet, unfähig, irgend etwas zu erklären.
    Er hatte jeden Anwalt im Branchenbuch angerufen und nichts als Anrufbeantworter gehört: Sie haben die Nummer der Rechtsanwaltskanzlei Merker & Stillman gewählt. Unsere Bürozeiten sind: Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr. Wenn es sich um einen Notfall handelt, wählen Sie bitte 5651608. Es handelte sich um einen Notfall, und er wählte bei allen vierundfünfzig im Branchenbuch verzeichneten Anwälten die angegebene Notfallnummer, doch bei allen außer einer hörte er wieder nur ein Band. Bei der einen Ausnahme meldete sich – das war am Samstag morgen – eine gereizte Frau, die wissen wollte, woher Bridger ihre Privatnummer habe und was so verdammt dringend sei, daß er sie an ihrem freien Tag störe. Im Hintergrund waren Rufe zu hören und das trockene »Plock« eines Tennisballs, der auf das Geflecht des Schlägers prallte. Bridger erklärte ihr die Situation, und sogleich verwandelte die Anwältin sich in die vernünftigste und wohlmeinendste Frau der Welt: Sie war empört über das, was das Justizsystem seiner Partnerin – Dana hieß sie? Ja, Dana also – angetan hatte, und war bereit, bis zum Umfallen für sie zu kämpfen... Sobald sie einen Vorschuß in Höhe von fünfundsiebzigtausend Dollar bekommen hatte.
    Um zwanzig nach acht begann der Saal sich zu füllen. Menschen aller Altersstufen schoben sich durch die Tür und warfen nervöse Blicke auf die Richterempore, bevor sie geräuschlos irgendwo Platz nahmen. Ihr Verhalten zeigte, wie bescheiden, demütig und schuldlos sie waren, Männer wie Frauen. Jeder war ein gesetzestreuer Bürger, dem es nicht im Traum einfallen würde, auch nur den geringsten Verstoß zu begehen oder die Befugnis des Gerichts anzuzweifeln. Sie waren frisch gewaschen und dem Anlaß entsprechend sorgfältig gekleidet: Die Männer trugen saubere, gebügelte Hemden (manche hatten sich sogar fügsam eine Krawatte umgebunden), die Frauen gedeckte Farben und ihre besten Handtaschen. Es waren die Leute, die wegen Ruhestörung, Trunkenheit in der Öffentlichkeit, häuslicher Auseinandersetzungen oder Trunkenheit am Steuer verhaftet, aber gegen Kaution freigelassen worden waren, so daß sie in ihrem eigenen Bett schlafen und sich um ihr Erscheinungsbild hatten kümmern können. Die anderen, zu denen auch Dana gehörte, waren irgendwo hinter den Kulissen, und Bridgers Puls beschleunigte sich jedesmal, wenn die Tür hinter der Richterempore geöffnet wurde.
    Zu dem Justizwachtmeister hatte sich ein Kollege gesellt – das gleiche Hemd, das gleiche Funkgerät, aber kleiner und dunkler, mit einem harten, stechenden Blick –, und die beiden standen da wie Leibwächter, während die Gerichtsbeamten von links auftraten, als wäre dies die erste Szene eines Theaterstücks, was es, wie Bridger fand, ja irgendwie auch war. Als alle Platz genommen hatten, wurde die Tür zum Richterzimmer aufgerissen und wieder geschlossen, und der größere der beiden Beamten rief: »Bitte erheben Sie sich! Ruhe bitte! Den Vorsitz führt die Ehrenwerte Richterin Kathleen McIntyre.«
    Bridger schöpfte Hoffnung: eine Richterin. Während er sich erhob und wieder setzte, musterte er ihr Gesicht. Es war ein interessantes Gesicht, voll Mitgefühl, ja Güte, mit melancholisch blickenden Augen, geschmackvollem Make-up und geschmackvoller Frisur. Er war sich sicher, daß dieser ganze Schlamassel sich in Wohlgefallen auflösen würde, sobald sie auch nur einen eingehenden Blick auf Dana geworfen hatte: Sie würde sofort sehen, daß die Frau, die vor ihr stand, keine Scheckfälscherin war, keine Diebin, keine Gewalttäterin, die eine tödliche Waffe eingesetzt hatte und untergetaucht war. Dana nicht. Dana war schön und geschmeidig. Sie war Lehrerin. Sie hatte keinerlei Vorstrafen. Sie war gehörlos. Und unschuldig, vollkommen unschuldig. Richterin McIntyre würde das sehen. Jeder würde es sehen.
    Aber Dana kam nicht. Zunächst erschien ein ganzer Trupp geschniegelter Anwälte in teuren Anzügen, die sich mit der

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