Talk Talk
Richterin über diesen oder jenen Antrag in Sachen Soundso berieten, und dann hatte der Spanisch-Dolmetscher die Bühne für sich, und alle wurden ermahnt, sich das fünfzehn Minuten dauernde Video anzusehen, in dem – zunächst auf spanisch, dann auf englisch – die Rechte der Angeklagten erklärt wurden. Als der Film zu Ende war, begann die Richterin die Prozeßliste abzuarbeiten. Die Aufgerufenen traten vor, die Ehrenwerte Kathleen McIntyre verlas die Anklagepunkte, setzte die Betroffenen davon in Kenntnis, was der Staatsanwalt (breitschultrig, jung, mit einer Frisur wie aus einem Modemagazin) in ihrem Fall empfahl, und fragte sie, ob sie sich schuldig oder nichtschuldig bekannten. Die meisten, darunter auch die männliche Hälfte des jungen Paars mit der Comicseite, waren wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und/oder Trunkenheit am Steuer angeklagt, und die Mehrzahl von ihnen bekannte sich schuldig und kam mit der in Polizeigewahrsam abgesessenen Haft, einer Geldstrafe und einer Spende an den Verein für Opferhilfe davon. Es gab interessantere Fälle – den einer älteren Frau mit wirrem Haar und starrem Blick, die wegen Fahrens mit einem abgelaufenen Führerschein, Fahrerflucht und Nichterscheinens vor Gericht angeklagt war, oder den eines mit rituellen Tätowierungen versehenen jugendlichen Vergewaltigers, der angeklagt war, im Gefängnis Drogen verkauft zu haben, und der Vorladung Folge geleistet hatte, nur um sogleich verhaftet und in Handschellen abgeführt zu werden –, doch die schwereren Fälle mußten bis nach der Mittagspause warten. Bridger konnte es nicht glauben: Er hatte den ganzen Vormittag hier herumgesessen, Radko würde ihm den Arsch aufreißen – und wofür? Er hatte Dana seit der Nacht vor ihrer Verhaftung nicht gesehen. Am liebsten hätte er mit einer Keule um sich geschlagen, mit dem Hammer der Richterin, mit einem Brett aus einer der Zuschauerbänke, bis nur noch Splitter übrig wären.
Dann kam der Nachmittag. Noch mehr Rechtsanwälte, noch mehr Kriminelle, noch mehr Anklagen, noch mehr unterwürfige Blicke, und je länger der Tag dauerte, desto unwirscher und gereizter wurde Richterin McIntyre. Um Viertel nach zwei schließlich wurde die Tür hinter der Geschworenenbank geöffnet, und zwei lange Reihen von Gefangenen mit Fußfesseln und orangeroten Overalls schlurften rasselnd herein und setzten sich, nach Männern und Frauen getrennt. Bridger erhob sich halb und blickte angestrengt in die Gesichter der Frauen, die in der Tür erschienen. Als er endlich Dana zwischen einer hochgewachsenen schwarzäugigen Frau mit wackelndem Kopf und zornigen Schultern und einem Fettkloß von einem Mädchen mit geschorenem Kopf und einer silbernen Niete in der rechten Augenbraue sah, erkannte er sie kaum wieder. Sie ließ Schultern und Kopf hängen, ihr Haar war ungewaschen und ungekämmt. Ihr Kinn schien mit irgend etwas verschmiert zu sein.
Mit weiterhin gefesselten Füßen setzte sie sich zu den anderen und hob nicht einmal den Blick, um die Zuschauerreihen nach ihm abzusuchen. Er war starr vor Wut und Entsetzen. Er mußte sich beherrschen, um nicht zu schreien, und erkannte, wie heimtückisch das System – der gediegenen, von den Spuren der Geschichte gezeichneten Täfelung zum Trotz – funktionierte: Wenn man ein Wochenende im Gefängnis verbracht hatte, sah man – so unschuldig man auch sein mochte – wie ein Verbrecher aus, wie ein Schuldiger, ein Täter. Man war schmutzig und gebrochen, und auch wenn man nicht schuldig im Sinne der Anklage war, so war man doch schuldig, angeklagt zu sein, teilnahmslos, hoffnungslos, schmutzig und isoliert. In diesem Augenblick gelobte er, diese Sache nie, niemals auf sich beruhen zu lassen, ganz gleich, wieviel Zeit vergehen mochte.
Als die Richterin ihren Namen aufrief, erhob sich Dana und sagte mit zu lauter Stimme, die vom einen Ende des Saals bis zum anderen ertönte, sie sei anwesend, und neben ihr stand ihre Pflichtverteidigerin, eine etwa fünfzigjährige Frau in Rock und Blazer und mit einem Gesicht, das Gerechtigkeit forderte, und antwortete mit einem hohen Singsang im Ton einer Litanei. »Euer Ehren«, begann sie, und es war eine Darbietung, die sie bei hundert Gerichtsverhandlungen an Nachmittagen wie diesem eingeübt hatte, »ich bin Marie Eustace vom Pflichtverteidigungsbüro und vertrete Dana Halter, die hier neben mir in Gewahrsam ist, und ich beantrage eine sofortige Überprüfung der Identität, da es sich offensichtlich um eine
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