Tallinn-Verschwörung
Seite stehen und ihr womöglich helfen.
Nach einer Weile sah sie unter sich das zerstörte Fahrzeug, und etwa fünfzehn Meter seitwärts davon entdeckte sie zwei reglose Gestalten in Tarnuniformen. Graziella hielt sie für tot und wollte sich schon abwenden, als sie auf einen besonders spitzen Stein trat. Wenn sie eine Chance haben wollte, von hier zu entkommen, brauchte sie dringend Schuhe. Ihr graute es zwar, Tote zu berauben, doch ihr blieb keine andere Wahl. Vielleicht fand sie bei den Leichen auch etwas zu essen, denn ihr Magen fühlte sich an wie ein riesiges Loch, in das ein ganzes Schaf passen musste.
Da die Faschisten sich bis jetzt noch nicht um ihre Opfer gekümmert hatten, rannte sie nach unten und kauerte sich hinter den Felsen, bei dem die Toten lagen. Beide waren voller Blut, das in der heißen Sonne rasch trocknete. Graziella streckte die Hand aus und berührte mit einem gewissen Grauen den zuoberst liegenden Soldaten.
In dem Augenblick stieß der Mann ein Stöhnen aus.
Graziella zuckte zusammen und wollte im ersten Impuls weglaufen. Noch während sie sich umsah, ob sie nicht beobachtet wurde, sagte sie sich, dass sie den Verletzten nicht einfach liegen lassen durfte. Sie zwang sich zur Ruhe und beugte sich erneut über den Mann. Er war groß und schlank und sah mit seinem knochig wirkenden Gesicht auf eine eigenartige
Weise gut aus. Das war ein anderer Charakter als Gianni oder dessen Freunde, sagte sie sich, als sie ihn abtastete, ob seine Gliedmaßen noch heil waren. Es schien nichts gebrochen zu sein, doch sein Helm wies mehrere Beulen und Scharten auf. Graziella schätzte, dass der Mann sich zumindest eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Sie zerrte ihn von dem anderen Körper herunter und bemerkte schnell, dass der Zweite tot war. Obwohl sie den Soldaten bedauerte, war sie doch erleichtert, denn sie fühlte sich nicht kräftig genug, um zwei Verletzten zu helfen.
Zwar grauste es ihr vor dem, was sie tat, aber es gelang ihr, die Stiefel des Toten aufzuschnüren und auszuziehen. Sie waren ihr viel zu groß, doch in ihnen zu laufen war besser, als sich die Füße weiterhin an scharfkantigen Steinen aufzureißen. Als sie die Taschen des Mannes abklopfte, fand sie mehrere Päckchen mit Trockennahrung und eine Feldflasche, die sie sofort öffnete und beinahe ganz leertrank.
Erst danach erinnerte sie sich an den Bewusstlosen, der das Wasser wahrscheinlich dringender benötigt hätte als sie. Sie hoffte, er trüge selbst eine Feldflasche mit sich, aber das war nicht der Fall.
»Dann muss er mit dem auskommen, was wir noch haben! « Graziella wollte ihn weiterschleifen, doch da öffnete er die Augen und starrte sie erstaunt an.
»Buongiorno, Signore! Kommen Sie, wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden«, flehte sie ihn an. Erst als er die Lippen bewegte, ohne dass ein Wort herauskam, merkte sie, dass er unter Schock stand. Es gelang ihr aber, ihn so weit zu bringen, dass er auf die Beine kam, sich auf sie stützte und einen Fuß vor den anderen setzte.
DREIUNDZWANZIG
T orstens Kopf schwirrte wie ein Bienenschwarm, und er konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Irgendwie begriff er, dass er über Geröll stolperte und ihn jemand stützte. War es einer seiner Kameraden? Er wusste es nicht. Die sind alle tot, meldete ein Teil seines Gehirns. Mühsam drehte er den Kopf, um seinen Helfer anzusehen, doch seine Augen spielten ihm einen Streich. Er glaubte eine junge Frau zu sehen, mit dunkelblondem, verschwitztem Haar und einem durchaus ansehnlichen Busen.
Wahrscheinlich liege ich irgendwo in der Sonne und leide unter Halluzinationen, dachte er und schloss die Augen wieder. Auf einmal tauchte Major Wagner vor seinem inneren Auge auf und das letzte Videogespräch, das er mit seinem Vorgesetzten geführt hatte.
»Verdammt, Renk, kann ich Sie nicht ein Mal in eine Weltgegend schicken, in der es nicht sofort hinterher knallt?«, hatte sein Vorgesetzter kopfschüttelnd erklärt, um dann auf den Kern der Sache zu kommen. »Das mit Kiriakis ist eine Schweinerei. Aber wenn das mit dem geplanten Putsch in Griechenland stimmt, ist es ein noch größeres Ding. Ich werde mich auf jeden Fall darum kümmern. Renk, Sie nehmen sich einen Dingo und ein paar Mann und prüfen, ob es tatsächlich diese Höhlen drüben in Albanien gibt und ob sich dort eine Armee aufhält, die Kiriakis entdeckt haben will.«
»Ich würde lieber allein gehen und zu Fuß«, hatte er geantwortet, doch Wagner
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