Tallinn-Verschwörung
dass es diesmal ernst war. Er sah die gepanzerte Windschutzscheibe aus ihrer Verankerung springen, und gleichzeitig wurde die linke Flanke des Dingos aufgerissen. In einem Reflex zog er an dem Öffnungshebel der Beifahrertür. Im nächsten Moment erfolgte die Detonation. Der Druck riss die unversperrte Tür auf, und Torsten wurde im hohen Bogen aus dem Wagen katapultiert.
Er schlug im Geröll eines Bachbetts auf und spürte noch,
wie er mit dem Kopf gegen einen Felsblock krachte. Der Helm, den Steiff ihn aufgenötigt hatte, verhinderte, dass sein Schädel wie eine Melone zerplatzte. Dennoch war er eine Weile bewusstlos. Als er wieder zu sich kam und sich mühsam aufrichtete, sah er das brennende Fahrzeug. Dort war nichts mehr zu retten. Torsten dachte mit Schaudern an die mehr als tausend Schuss MG-Munition, die jederzeit in die Luft gehen konnten. Aber er schützte nur das Gesicht mit dem vorgehaltenen Arm gegen die Hitze und humpelte auf den Panzerwagen zu.
»Lebt noch jemand?«, rief er mit krächzender Stimme. Er erhielt keine Antwort.
Verzweifelt steckte er den Kopf durch die offene Tür. Der Fahrer hing blutend über dem Lenkrad. Torsten fasste seinen herabhängenden linken Arm und zog ihn aus dem brennenden Dingo. Es war nicht zu erkennen, ob der Mann noch lebte. Bei Leutnant Steiff gab es diese Zweifel nicht. Ihm war der halbe Kopf weggerissen worden. Auch der Funker hatte nicht überlebt. Den Bordschützen hatte es nach hinten geschleudert. Sein Kopf war verdreht, und aus seiner Brust ragte ein Stück Metall.
»Den hat es auch erwischt«, presste Torsten zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und packte den Fahrer, um ihn aus der Gefahrenzone zu zerren. Er war erst ein paar Meter weit gekommen, als die ersten Patronen explodierten. Torsten machte noch ein paar Schritte, stieß dann den Mann hinter einen Felsblock und hechtete hinterher. Beinahe im selben Augenblick zerriss es den Dingo. Eine Glutwelle raste über ihn hinweg, und er fühlte, wie die Hitze trotz der Deckung die Haare auf seinen Armen versengte. Er glaubte ersticken zu müssen, zwang sich aber, nicht zu atmen, um sich nicht die Lungen in der heißen Luft zu verätzen. Dann wurde er erneut bewusstlos.
ZWEIUNDZWANZIG
D er Fels war durch die Sonne aufgeheizt und von scharfkantigen Steinen bedeckt. Graziella bedauerte es, barfuß geflohen zu sein, anstatt Giannis Schuhe an sich zu nehmen. Doch so weit hatte sie nicht denken können. Ihre Füße bluteten schon, und sie wusste nicht, wie weit sie noch kommen würde. Außerdem hatte sie nicht die leiseste Ahnung, in welche Richtung sie fliehen sollte. Die Berge um sie herum sahen alle gleich aus, und sie wusste nicht mehr, als dass sie sich in Albanien befand.
Ihr war klar, dass sie dringend Hilfe brauchte. Abgesehen von Hunger und Erschöpfung schlug sie sich mit den Nachwirkungen der violetten Pille herum. Dennoch war es ihr, als habe Gianni eine andere Person vergewaltigt und sie sei nur Zuschauerin des Geschehens gewesen. Das war vermutlich auch eine Wirkung dieser Pille. Sie fragte sich, wie Menschen freiwillig so ein widerwärtiges Zeug schlucken konnten. Es stellte sie auf eine niedrigere Stufe als Tiere und war, wie sie bei Gianni hatte miterleben können, höllisch gefährlich.
Was ihren Vergewaltiger betraf, so hoffte sie, dass der Mann sich mit der hohen Dosis den goldenen Schuss gesetzt hatte. Er war ein Ekel und hatte sich als haltloser Schuft erwiesen.
»Du darfst nicht andauernd an diesen Idioten denken, sondern nur an dich!«, schimpfte sie mit sich selbst und überlegte, in welche Richtung sie gehen sollte.
Da zuckte seitlich von ihr ein Lichtblitz auf und raste Haken schlagend dicht über den Boden dahin. Was ist das für ein Teufelsding?, fuhr es Graziella durch den Kopf. Panikerfüllt warf sie sich hinter einen Felsen und schützte den Kopf mit den Händen. Fast im selben Moment hörte sie einen harten Aufschlag und eine heftige Explosion.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriff, dass nicht sie das Ziel gewesen sein konnte. Auch Leute wie diese Faschisten schossen nicht mit Kanonen auf Spatzen, dachte sie, während sie vorsichtig über ihre Deckung lugte. Eine Zeit lang blieb es schmerzhaft still, und als sie sich aufraffen wollte, um weiterzugehen, gab es an der Aufschlagstelle eine Art knatterndes Feuerwerk. Vermutlich explodierte dort Munition. Graziellas Neugier war geweckt. Wenn es dort Menschen gab, auf die die Faschisten schossen, so konnten sie auf ihrer
Weitere Kostenlose Bücher