Tallinn-Verschwörung
fliegen ließ. In den letzten Monaten war einfach zu viel passiert. Andreas Tod war durch die späteren Ereignisse
weit in den Hintergrund gedrückt worden. Nun aber erinnerte er sich so deutlich daran, als wäre es erst gestern geschehen, und spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er durfte sich jedoch nicht von der Vergangenheit ablenken lassen. Keine zwei Dutzend Kilometer von ihm entfernt spannen Hoikens und ein verrückter General einen Plan, dessen Gelingen Europa ins Chaos stürzen würde.
Jetzt tu nicht so, als wärst du der Einzige, der die Welt retten könnte, fuhr es ihm durch den Kopf. Im Grunde seines Herzens begriff er jedoch, dass nur er und Graziella genug Informationen hatten, um die für die EU-Ratsversammlung zuständigen Sicherheitskräfte warnen zu können. Daher durften sie nicht hier im hintersten Albanien bleiben, sondern mussten so schnell wie möglich in die Zivilisation zurückkehren.
VIERUNDZWANZIG
L ula betrachtete die beiden Fremden, die sie in ihr Haus aufgenommen hatte, und fragte sich, ob sie richtig gehandelt hatte. Obwohl ihr Magen sich wie ein Klumpen aus Angst anfühlte, bejahte sie es. Die junge Frau war krank und brauchte noch mindestens zwei Tage, bis sie wieder auf den Beinen war, und der Mann hatte alles getan, um seiner Begleiterin zu helfen. Es wäre ehrlos gewesen, ihnen ihre Hilfe zu verweigern, und sie hätte sie auch dann aufgenommen, wenn sie das bereits gewusst hätte, was sie am Nachmittag erfahren hatte.
Plötzlich hörte sie ihren Hund bellen. Lula nahm ihren Karabiner in die Hand, bedeutete Torsten und Graziella, still zu sein, und trat an die Tür. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann rief jemand laut ihren Namen.
»Lula, hörst du mich?«
»Ich höre dich, Neffe!«, gab sie zur Antwort.
»Mach die Tür auf und lass mich ein!«
»Bist du allein?« Lula fragte, obwohl sie draußen bereits mehrere leise Stimmen gehört hatte.
Trotzdem antwortete ihr Neffe: »Ja!«
»Du lügst! Es sind mindestens drei Männer bei dir.« Lulas Gesicht verzog sich. Die heutige Jugend hatte keine Ehre mehr im Leib. Die eigene Tante zu belügen, hätte sie sich niemals getraut.
»Lula, du hast gehört, dass sich zwei Verbrecher in der Gegend herumtreiben sollen, ein Mann und eine Frau. Öffne die Tür, damit wir sehen, dass sie nicht bei dir sind!« Die Stimme ihres Neffen klang drängend und leicht ärgerlich.
Lula dachte jedoch nicht daran nachzugeben. »Das hier ist mein Haus, und ich öffne es keinem, der seine Begleiter verschweigt. Wenn ihr stehlen wollt, so geht woanders hin.«
»Verdammtes Weibsstück! Öffne, sonst treten wir die Tür ein!«
Als Antwort lud Lula ihren Karabiner durch. »Höre mir gut zu! Auch wenn du der Sohn meines Bruders bist, werde ich dich über den Haufen schießen, sobald du den Frieden meines Hauses brichst!«
»Lass es gut sein, Flamur! Deine Tante ist in der Lage und drückt wirklich ab«, hörte Lula einen der Begleiter ihres Neffen sagen.
»Ich will diesen Deutschen und die Frau. Der italienische Offizier zahlt viel Geld, wenn wir sie einfangen und ihm bringen!«
»Du kannst nicht das Haus deiner Tante aufbrechen und sie womöglich gar erschießen. Dann wärst du in der ganzen Gegend unten durch. Da würde dir auch das Geld des Italieners nicht mehr helfen!«
Die Begleiter ihres Neffen schienen im Gegensatz zu diesem Sitte und Brauch nicht ganz über Bord geworfen zu haben, dachte Lula. Schließlich gelang es ihnen, Flamur zu überzeugen, dass ein gewaltsames Eindringen in das Haus auch ihren Ruf ruinieren würde.
»Wir kriegen die beiden auch so. Wir brauchen nur das Haus überwachen. Irgendwann müssen sie ja herauskommen! «, erklärte einer.
Flamur fluchte und warf einen Stein gegen die Tür, dass es krachte. »Also gut! Aber umsonst hat die Alte das nicht getan.«
Lula schauderte, als sie diese Drohung hörte. Kurz darauf bellte ihr Hund erneut. Da knallte plötzlich ein Schuss, und das Bellen hörte auf. Stattdessen winselte der Hund noch einige Sekunden, dann war er mit einem Mal still.
»Hast du das gehört, Lula?«, hörte die Hirtin ihren Neffen lachend rufen. »Als Erstes war der Hund dran. Jetzt geht es mit dem anderen Viehzeug weiter.«
Der nächste Schuss krachte. Eine Ziege stieß einen kurzen Ruf aus, dann drang ängstliches Blöken und Meckern der Tiere in das Haus und wurde immer wieder durch Schüsse übertönt.
Lula stand neben der Tür und umkrampfte den Karabiner, dass ihre Knöchel weiß
Weitere Kostenlose Bücher