Tallinn-Verschwörung
hervortraten. Sie hatte ihre Tiere geliebt, und wenn sie von Zeit zu Zeit eines von ihnen hatte schlachten müssen, so war dies nicht aus Lust, sondern aus Notwendigkeit geschehen. Tränen liefen ihr über die Wangen, während das Blöken und Meckern immer leiser wurde und schließlich ganz aufhörte. Ein letzter Schuss knallte, dann erscholl wieder Flamurs Lachen.
»Das war die Strafe, weil du mir, einem Mann deiner Sippe, nicht gehorchen wolltest!«
Er war Lula keiner Antwort wert. Sie wusste, dass Flamur
mit den Sitten des Clans nur seine Gemeinheit rechtfertigen wollte. Mit ihren Tieren hatte er auch ihre Freiheit getötet. Jetzt würde sie bei ihren Verwandten betteln oder für eine Handvoll Essen als Tagelöhnerin arbeiten müssen. Der Wunsch, die Tür aufzureißen und auf ihren Neffen zu schießen, wurde schier übermächtig, doch sie widerstand ihm. Flamurs Freunde würden sie töten, und damit wären auch die beiden Menschen verloren, die sich unter ihren Schutz gestellt hatten. Außerdem wollte sie nicht, dass ihre Tiere umsonst gestorben waren. Sie wandte sich zu Torsten und Graziella um und zwang sich zu einem Lächeln.
»Keine Angst, sie werden euch nicht kriegen! Nicht, solange noch ein Tropfen Blut in meinen Adern fließt!«, radebrechte sie mühsam auf Italienisch.
Lula wusste, dass Flamur und seine Männer auf der Lauer liegen bleiben und auf ihren ersten Fehler warten würden, doch sie wollte keinen machen. Vor allem aber hatte sie Zeit, denn die Frau musste sich ohnehin erst erholen, bevor sie weiterziehen konnte. Natürlich bestand Gefahr, dass Flamur die Männer des italienischen Offiziers holte, die keine Ehre kannten und in ihr Haus eindringen würden. Doch das musste sie riskieren.
»Wir warten. Einen Tag, zwei Tage, und wenn es sein muss viele Tage!«, sagte sie zu Torsten und trat dann an das Bett, um Graziella Wasser zu geben.
FÜNFUNDZWANZIG
D er Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als Flamur zum nächsten Mal etwas von sich hören ließ. »Lula, verdammtes Weib, hörst du mich?«
»Du schreist ja laut genug«, gab seine Tante gelassen zurück.
»Lula, öffne uns die Tür und übergib uns die beiden Fremden. Sie sind bei dir, sonst hättest du uns eingelassen. Bedenke, der Mann ist ein Deutscher, der zu den moslemischen Kosovaren hält, denselben Leuten, die deinen Mann erschossen haben. Schon um meinen Onkel zu rächen, musst du sie mir übergeben.«
»Scher dich zum Teufel!« Lula streichelte ihren Karabiner und spürte, dass sie die Mörder ihres Mannes im Moment weniger hasste als ihren Neffen.
In den nächsten Stunden versuchte Flamur noch mehrfach, seine Tante zum Aufgeben zu bewegen. Lula hörte ihm nicht einmal mehr zu, sondern summte ein Lied, das noch aus der Zeit ihres Nationalhelden Skënderbeu stammte und den unerschütterlichen Mut der Albaner beschwor.
Die Nacht brach herein, und Lula freute sich an dem Gedanken, dass Flamur und seine Leute es draußen arg unbequem haben dürften, auch wenn einer von ihnen ins Dorf laufen und Decken und Essen holen konnte. Ihr selbst mangelte es weder an Decken noch an Nahrungsmitteln. Allerdings wurde das Wasser ein Problem. Graziella musste viel trinken, und obwohl Lula und Torsten sich zurückhielten, nahmen die Vorräte immer mehr ab.
Gegen Mitternacht überzeugte Lula sich, dass das Feuer im Herd erloschen war und auch sonst kein Licht in der Hütte brannte. Im Schein ihrer Taschenlampe suchte sie sämtliche Gefäße zusammen, die sie mit Wasser füllen konnte, und winkte Torsten zu sich.
»Der Mond ist hinter den Wolken verschwunden. Daher werde ich jetzt hinausgehen und Wasser holen. Du wirst die Tür hinter mir zuschließen und erst wieder öffnen, wenn du dieses Klopfen hörst!«
Da es ihr Mühe machte, so viel in der fremden Sprache zu sagen, begleitete sie ihren Vortrag so gestenreich, dass der Mann sie auf jeden Fall verstehen musste, und wiederholte mehrmals das vereinbarte Signal. Als sie ganz vorsichtig die Türe öffnete, damit die Belagerer sie nicht hören konnten, überlegte sie, ob sie dem Mann den Karabiner überlassen sollte. Sie entschied sich dagegen. Zum einen wusste sie nicht, ob er genug Selbstbeherrschung besaß, um nicht gleich beim ersten Geräusch mit dem Schießen zu beginnen, und zum anderen fühlte sie sich sicherer, wenn sie die Waffe bei sich hatte und sich wehren konnte.
Lula kniete sich hin und schob sich zur Tür hinaus. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie fürchtete jeden
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