Tallinn-Verschwörung
jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Andererseits bewunderte er die Albanerin. Dort, wo sie die Berettas versteckt hatte, hätte niemand sie vermutet.
Lula reichte ihm beide Waffen. Torsten bot ihr eine an, doch sie schüttelte den Kopf und wies auf ihren Karabiner. Den war sie gewohnt, und sie wollte diesen Weg nicht mit einer Waffe in Angriff nehmen, die sie nicht kannte. So blieb Torsten nichts anderes übrig, als sich beide Berettas über die Schultern zu hängen. Bevor sie aufbrachen, zerschnitt Lula eine Decke und umwickelte ihre Schuhe.
»Sonst machen wir zu viel Lärm«, erklärte sie gestenreich.
Torsten nickte und nahm ebenfalls zwei Stoffstücke und ein Stück Schnur, um es ihr gleichzutun. Lula half Graziella, die Schuhe abzupolstern, und lud sich dann einen Packen mit Nahrungsmitteln und eine noch volle Flasche mit anderthalb Litern Wasser auf.
Torsten trat zu Graziella und reichte ihr die Hand. »Stütz dich auf mich!«
Graziella schnaubte abwehrend, merkte dann aber selbst, dass die Krankheit sie viel Kraft geraubt hatte. Schon nach den paar Schritten bis zur Tür war sie in Schweiß gebadet. Dennoch wollte sie das erste Stück allein zurücklegen. Wenn es zum Kampf kam, musste Torsten beide Hände frei haben.
Lula bedeutete ihnen, leise zu sein, dann schaltete sie ihre Taschenlampe aus. Das Ohr an die Tür gelegt lauschte sie nach draußen. Es war seltsam still, so als hätte Flamur seine Leute abgezogen. Die Albanerin kannte jedoch ihre Landsleute und wusste, dass sie noch da waren und mit Sicherheit besser aufpassten als in der ersten Nacht. Jetzt kam es darauf an, wer schlauer und geschickter war. Vorsichtig öffnete
sie die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Noch stand der Mond hell am Himmel, doch über die Berge im Osten trieb der Wind bereits dunkle Wolken heran.
In dem Augenblick, in dem der erste Schatten über das Haus fiel, öffnete Lula die Tür ganz und schlüpfte hinaus. Torsten folgte ihr mit der Waffe in der Hand. Er sah jedoch rein gar nichts und war froh, dass die Albanerin seinen Arm nahm und ihm den Weg wies. Sie zog auch Graziella heraus, dann schloss sie die Tür wieder und klemmte sie mit einem Stöckchen fest. Den Schlüssel umdrehen wollte sie nicht, denn Flamurs Leute hätten dieses Geräusch gehört.
Die Albanerin huschte nun leiser als eine Maus um das Hauseck und wartete dort, bis Torsten und Graziella zu ihr aufgeschlossen hatten. Nicht weit von ihnen floss ein Bach. Lula war sicher, dass er überwacht wurde. Es wäre ihr aber nicht einmal im Traum eingefallen, das Bachbett als Fluchtweg zu benützen, denn jeder Schritt auf dem losen Geröll hätte Lärm gemacht. Stattdessen stiegen sie den steilen Hang hoch, an dessen Fuß die Hütte stand. Da ihre Schuhe mit weichem Tuch umwickelt waren, waren ihre Fußtritte fast unhörbar. Als kurz darauf etwas Mondlicht durch eine Wolkenlücke fiel, befanden sie sich bereits ein ganzes Stück oberhalb der Hütte.
Nun konnten sie auch die Männer erkennen, die die Hütte überwachten. Die drei waren jedoch mit Reden und mit der Schnapsflasche beschäftigt, die zwischen ihnen kreiste, und achteten wenig auf ihre Umgebung.
Lula nickte zufrieden und gab das Signal weiterzugehen. Ein Stück weiter konnten sie die Tücher von den Schuhen nehmen und kräftiger ausschreiten. Zunächst ging es in Richtung Topolan und damit auf die Höhlenfestung zu, doch schon bald schwenkte Lula nach Süden ab, umging Kolesjan und kurz darauf auch Resk in einem weiten Bogen und hielt
dann auf die Südspitze des Stausees von Ligeni i Fierzës zu. Dort machten sie im Schatten der Berge Rast.
Torsten wunderte sich darüber, denn er hatte erwartet, ihre Gastgeberin würde sie auf schnellstem Weg nach Kukës bringen. Doch als er den Namen der Stadt aussprach, schüttelte Lula heftig den Kopf.
»Das wäre nicht gut! Flamur hat dort viele Freunde. Manchmal kommen auch Italiener aus der Festung in die Stadt. Wir gehen nach Westen.« Sie wies in die Richtung, in der sich der Gipfel des Mali i Zebës erhob. Sie wusste, dass ein beschwerlicher Weg vor ihnen lag, auf dem sie drei Bergzüge überqueren mussten. Sie würden mindestens zwei Tage dafür benötigen, vielleicht sogar drei. Doch in ihren Augen war es ihre einzige Möglichkeit, den Verfolgern zu entkommen.
Torsten begriff ihren Plan und deutete Zustimmung an, auch wenn der weite Weg ihm Sorgen machte. Seufzend füllte er seine Feldflasche und Lulas Plastikflasche an einer Quelle und schob
Weitere Kostenlose Bücher