Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
Boden war gefroren, deshalb hat Vater sie bis zum Frühling eingewickelt im Heuboden des Kuhstalls gelassen. Wenn ich einsam war, bin ich manchmal hinaufgeklettert und bei ihr gesessen. Hin und wieder habe ich sogar die Decke zurückgezogen, nur um ihr Gesicht noch einmal zu sehen. Wir haben sie im Frühling beerdigt, bevor die Blätter zu sprießen begannen. Zu der Zeit hatte Vater schon Sekora mit nach Hause gebracht, und ihr Bauch war bereits groß. Ich erinnere mich noch daran, dass ich ihn angestarrt habe, während wir Lieder über Mamas Grab sangen.« Seine Stimme kippte.
»Du hast eine neue Mutter bekommen«, murmelte Tobin, der sich plötzlich schwer und unbeschreiblich müde fühlte. »Ich habe jetzt gar keine Mutter und keinen Vater mehr.«
Kis Arm um ihn drückte ihn fester. »Ich schätze, sie würden dich nicht mit zu mir nach Hause kommen lassen, was? Bei uns würde einer mehr gar nicht auffallen.«
Mit nach wie vor trockenen Augen und gequält von innerer Pein, glitt Tobin in einen unruhigen Schlummer und träumte davon, mit Ki inmitten eines Haufens braunhaariger Kinder zu schlafen – alle dicht aneinander geschmiegt wie ein Rudel Welpen, während draußen im Kuhstall gefrorene, tote Mütter lagen.
K APITEL 34
Arkoniel erwachte kurz nach Sonnenaufgang mit einem steifen Nacken. Er hatte sich in der Nähe des Schreins in eine Ecke gelehnt und vorgehabt, mit den anderen Totenwache zu halten, war jedoch irgendwann nachts eingedöst.
Wenigstens nicht als Einziger, dachte er, als er sich in der Halle umsah.
Die Lampe im Schrein brannte noch, und in ihrem trüben Licht erkannte er auf Bänken und auf den Binsen um den Kamin ausgestreckte Schemen. In der Nähe der Treppe konnte er Ki und Tobin ausmachen, die aneinander gesackt mit den Rücken an der Wand lehnten.
Nur die Krieger waren wach geblieben und hatten die ganze Nacht auf den Knien verbracht, um den Mann zu ehren, dem sie so lange gefolgt waren.
Arkoniel musterte ihre abgehärmten Gesichter. Nyanis und Solari waren neu für ihn; nach allem, was er von Nari und Köchin am vergangenen Abend gehört hatte, waren sie treue Gefolgsmänner und somit vielleicht künftige Verbündete für Rhius’ Tochter.
Abermals schaute er hinüber zu Tobin; bei diesem Licht hätte er ein beliebiges Gossenkind aus den Elendsvierteln Eros sein können, das an einer Wand schlief. Arkoniel seufzte, als ihm einfiel, was Iya ihm von ihren Visionen erzählt hatte.
Da er sich zu unbehaglich fühlte, um wieder einzuschlafen, ging er nach draußen und schlenderte auf die Brücke, um zu beobachten, wie die Sonne höher stieg. Ein paar Rehe grasten am Rand der Weide, und einige weitere hatten sich einen Weg über die steinigen Ufer des Flusses zum Wasser gebahnt. Ein großer, weißer Reiher stakste auf der Suche nach Frühstück durch die seichte Strömung. Selbst um diese Stunde versprach der Tag bereits, heiß zu werden.
Arkoniel setzte sich mitten auf die Brücke und ließ die Beine über den Rand baumeln. »Was jetzt, Lichtträger?«, fragte er leise. »Was sollen wir tun, wenn diejenigen, die das Kind beschützen sollen, von uns genommen werden?«
Still wartete er und betete um ein Zeichen als Antwort. Doch alles, was er sehen konnte, war Sakors feurige Scheibe, die ihm ins Gesicht starrte. Seufzend begann er, einen Brief an Iya zu verfassen, in dem er versuchte, sie zu überzeugen, von ihrer langen Wanderschaft zurückzukehren und ihm zu helfen. Allerdings hatte er seit Monaten nichts mehr von ihr gehört und war nicht einmal sicher, wohin er die Botschaft senden sollte, um sie zu erreichen.
Er war noch nicht weit gekommen, als er hörte, wie sich hinter ihm das Tor öffnete. Tharin schritt heraus und gesellte sich auf der Brücke zu ihm. Er setzte sich neben den Zauberer und starrte auf die Weide, die Hände zwischen den Knien gefaltet. Sein Antlitz war blass und vor Kummer tief zerfurcht. Das Morgenlicht sog die Farbe aus seinen Augen.
»Du bist erschöpft«, stellte Arkoniel fest.
Tharin nickte träge.
»Was glaubst du, dass jetzt geschehen wird?«
»Deshalb bin ich hergekommen, um mit dir zu reden. Der König hat an Rhius’ Scheiterhaufen mit mir gesprochen. Er hat vor, Tobin zu sich zu rufen. Er will ihn in Ero bei Prinz Korin und den Gefährten haben.«
Dies stellte keineswegs eine überraschende Wende der Ereignisse dar, dennoch verknoteten sich Arkoniels Eingeweide. »Wann?«
»Ich bin nicht sicher. Bald. Ich habe ihn gebeten, dem Jungen etwas
Weitere Kostenlose Bücher