Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
auch nicht, sondern blieb zu einem engen Knäuel zusammengerollt. Ihm die besudelten Kleider auszuziehen, stand vorläufig außer Frage, und so befreite Nari ihn von seinen Schuhen, wusch ihm das Gesicht und steckte ihn mit zusätzlichen Decken ins Bett. Der Herzog kniete sich daneben und ergriff mit beiden Händen Tobins Hand, murmelte ihm leise zu und beobachtete, ob das fahle Antlitz auf dem Kissen eine Regung zeigte.
Als sich Nari umdrehte, sah sie Tharin an der Tür stehen, bleich wie Milch. Sie ging zu ihm und ergriff eine seiner kalten Hände. »Er kommt wieder in Ordnung, Tharin. Er ist nur völlig verängstigt.«
»Sie hat sich aus dem Turmfenster gestürzt«, flüsterte Tharin, der nach wie vor auf Rhius und den Knaben starrte. »Sie hat Tobin mit hinauf genommen … Sieh ihn dir an, Nari. Glaubst du, sie hat versucht …«
»Keine Mutter könnte so etwas tun!« In ihrem Herzen jedoch war sie nicht so sehr davon überzeugt.
Eine Weile harrten sie in Tobins Zimmer aus, stumm wie eine Pantomimentruppe. Schließlich rappelte sich Rhius auf die Beine und strich sich mit der Hand abwesend über die Vorderseite seines blutverschmierten Gewandes. »Ich muss mich um den König kümmern. Er beabsichtigt, sie mitzunehmen, um sie in der königlichen Gruft in Ero zu bestatten.«
Nari krallte die Hände wütend in ihre Schürze. »Um des Kindes willen, sollten wir nicht noch warten?«
Rhius bedachte sie mit einem von solcher Verbitterung erfüllten Blick, dass ihr die Worte auf der Zunge verwelkten. »Der König hat gesprochen.« Er wischte sich die Hände abermals am Kittel ab und verließ den Raum. Nach einem letzten, traurigen Blick auf das schlafende Kind folgte ihm Tharin.
Nari zog sich einen Stuhl ans Bett und tätschelte Tobins schmale Schulter durch die Decken. »Mein armer, kleiner Liebling«, seufzte sie. »Sie wollten dich nicht einmal um sie trauern lassen!«
Während sie die Stirn des schlafenden Kindes streichelte, stellte sie sich vor, wie es wäre, ihn zu nehmen und weit fort von diesem Haus des Elends zu tragen. Sie schloss die Augen und malte sich aus, ihn in einer schlichten Hütte wie ihr eigenes Kind aufzuziehen, fernab von Königen, Geistern und wahnsinnigen Frauen.
Tobin hörte Geheul und kauerte sich noch krampfhafter zusammen, als es lauter wurde. Nach und nach verwandelte sich die schluchzende Stimme in das Geräusch eines heftigen Ostwinds, der sich gegen die Mauern der Feste schleuderte. Er spürte das Gewicht schwerer Decken auf sich, dennoch war ihm so kalt.
Als er die Augen aufschlug, erblickte er blinzelnd die kleine Nachtlampe, die auf dem Tischchen neben seinem Bett flackerte. Nari schlief auf einem Stuhl daneben.
Sie hatte ihn angezogen ins Bett gelegt. Tobin streckte langsam seinen verkrampften Körper, drehte sich der Wand zu und zog die Lumpenpuppe aus seinem Kittel hervor.
Er wusste nicht mehr, weshalb er sie hatte. Etwas Schlimmes war geschehen, etwas so Schlimmes, dass er sich nicht dazu überwinden konnte, daran zu denken, was.
Meine Mama ist …
Er kniff die Augen zu und umarmte verzweifelt die Puppe.
Wenn ich die Puppe habe, dann ist meine Mama …
Er konnte sich nicht entsinnen, die Puppe unter seinen Kleidern versteckt zu haben. Eigentlich konnte er sich an gar nichts erinnern, aber nun verbarg er die Puppe wieder unter der Decke, schob sie mit den Füßen ganz hinab und wusste, dass er bald ein besseres Versteck dafür finden müsste. Ihm war klar, dass es schändlich von ihm war, sie haben zu wollen, beschämend für einen Jungen, der ein Krieger werden sollte, aber er versteckte sie trotzdem mit schlechtem Gewissen und voller Sehnsucht.
Vielleicht hatte seine Mama sie ihm doch einfach geschenkt.
Als er wieder in einen unruhigen Schlummer glitt, träumte er immer wieder davon, wie seine Mutter ihm die Puppe reichte. Jedes Mal lächelte sie, als sie zu ihm sagte, dies sei die beste, die sie je gemacht hätte.
K APITEL 10
Tobin musste zwei Tage lang das Bett hüten. Anfangs schlief er die meiste Zeit, eingelullt vom Geräusch des stetig gegen die Läden prasselnden Regens und dem Ächzen und Rumoren des aufbrechenden Flusseises.
Manchmal vermeinte er in halb wachem Zustand, seine Mama befände sich bei ihm im Zimmer und stünde am Fußende seines Bettes, die Hände krampfhaft ringend, so, wie sie es getan hatte, als sie den König den Hügel heraufreiten sah. Er fühlte sich so sicher, dass sie da war, dass er sie sogar atmen hören konnte, doch
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