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Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling

Titel: Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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wenn er die Augen aufschlug und hinschaute, erblickte er nichts.
    Dafür war der Dämon bei ihm. Tobin spürte, dass er nunmehr ständig in seiner Nähe weilte. Nachts schmiegte er sich eng an Nari und versuchte, so zu tun, als fühlte er nicht, wie er angestarrt wurde. Doch so mächtig die Empfindung war, der Dämon rührte ihn nicht an und zerbrach nichts.
    Am Nachmittag des zweiten Tages war er wach und ruhelos. Untertags saßen Nari und Tharin bei ihm, erzählten ihm Geschichten und brachten ihm kleines Spielzeug, als wäre er ein Säugling. Auch die Bediensteten kamen, um ihm die Hand zu tätscheln und ihn auf die Stirn zu küssen.
    Alle besuchten sie ihn, außer Vater. Als Tharin ihm schließlich erklärte, dass er den König eine Weile zurück nach Ero begleiten musste, schmerzte Tobins Kehle, aber er fand keine Tränen zum Weinen.
    Von seiner Mutter sprach niemand. Er fragte sich, was ihr widerfahren war, nachdem sie sich in den Turm begeben hatte, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, sich danach zu erkundigen. Tatsächlich war ihm überhaupt nicht nach Reden zumute, weshalb er es nicht tat, auch wenn die anderen ihn dazu zu bewegen versuchten. Stattdessen spielte er mit seinem Wachs oder vergrub sich unter den Decken und wartete, bis alle gegangen waren. Bei den spärlichen Gelegenheiten, wenn er alleine war, holte er die Lumpenpuppe aus ihrem neuen Versteck hinter dem Schrank hervor und hielt sie in den Armen, wobei er auf das leere Rund aus Stoff hinabstarrte, wo sich ein Gesicht befinden sollte.
    Natürlich hat sie ein Gesicht. Das hübscheste …
    Doch die Puppe war überhaupt nicht hübsch. Sie war hässlich. Die Füllung fühlte sich klobig an und verklumpte im Inneren, außerdem spürte er kleine, spitze Brocken wie Splitter in den unebenmäßigen Beinen und Armen. Die dicke Musselinhaut war schmutzig und vielfach geflickt. Allerdings entdeckte Tobin etwas Neues: eine dünne, glänzende, schwarze, eng um den Hals geschnürte Kordel – so eng, dass sie sich erst zeigte, wenn man den Kopf scharf zurückbeugte.
    Aber so hässlich die Puppe sein mochte, Tobin vermeinte, an ihr den Blumenduft riechen zu können, den seine Mutter während jener letzten, glücklichen Wochen getragen hatte, und das genügte ihm. Eifersüchtig wachte er über die Puppe, und als er am dritten Tage endlich aufstehen durfte, verlagerte er sie auf den Boden der alten Truhe im Spielzimmer.
    Das Wetter hatte umgeschlagen; es war wieder kalt geworden, und draußen zischte Schneeregen. Bei solchem Tageslicht präsentierte sich das Spielzimmer trüb und trostlos. Auf dem Boden und auf den flachen Dächern der Holzblockhäuser der Stadt hatte sich Staub angesammelt; die kleinen Holzmännchen lagen um den Palatinkreis verstreut, wie die Seuchenopfer, über die sein Vater geschrieben hatte. In der Ecke schien ihn der plenimarische Stuhlkrieger zu verhöhnen, weshalb Tobin ihn zerlegte, den Mantel in den leeren Kleiderschrank hängte und den Helm in seiner Truhe verstaute.
    Danach ging Tobin hinüber zum Schreibtisch am Fenster und berührte zart die Dinge, die er und seine Mutter geteilt hatten – die Pergamente, den Sandstreuer, die Schabklingen und die Federkiele. Sie hatten fast das halbe Alphabet durchgearbeitet. Bögen mit neuen Buchstaben in ihrer auffallenden, kantigen Handschrift warteten darauf, dass er mit ihnen übte. Er ergriff einen und roch daran, in der Hoffnung, auch daran ihren Duft wahrzunehmen, doch ihm stieg nur der Geruch von Tinte in die Nase.
    Der Schneeregen ging in einen Frühlingsbeginnregen über, als sein Vater ein paar Tage später heimkehrte. Er wirkte seltsam und traurig, und niemand schien zu wissen, was man zu ihm sagen sollte, nicht einmal Tharin. Nach dem Abendmahl an jenem Tag schickte Rhius alle aus der Halle, danach setzte er sich am Kamin Tobin auf den Schoß. Eine lange Weile schwieg er.
    Irgendwann hob er Tobins verletztes Kinn an und sah ihm ins Gesicht. »Kannst du nicht sprechen, Kind?«
    Entsetzt sah Tobin, dass seinem Vater Tränen in den schwarzen und silbergrauen Bart liefen. Nicht weinen! Krieger weinen nicht , dachte er. Es verängstigte ihn regelrecht, seinen tapferen Vater Tränen vergießen zu sehen. Tobin hörte die eigenen Worte im Kopf, trotzdem gelang es ihm immer noch nicht, einen Laut über die Lippen zu bringen.
    »Na ja, schon gut.« Sein Vater zog ihn dicht an sich, und Tobin lehnte den Kopf an seine breite Brust, lauschte dem tröstlichen Pochen seines Herzens und war

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