Tamir Triad 01 - Der verwunschene Zwilling
dankbar, dass er nicht beobachten musste, wie jene Tränen kullerten. Vielleicht hatte sein Vater deshalb alle weggeschickt … damit es niemand sähe.
»Deiner Mutter … ging es nicht gut. Früher oder später wirst du hören, dass die Leute sagen, sie wäre wahnsinnig gewesen, und das war sie auch.« Er setzte ab, und Tobin spürte, wie er seufzte. »Was sie im Turm getan hat … das war der Wahn. Auch ihre Mutter war davon befallen.«
Was war im Turm geschehen? Tobin schloss die Augen und wurde von einem seltsamen Gefühl beseelt. Die Bienen hatten wieder begonnen, in seinem Kopf zu summen. Wurde man davon verrückt, Puppen zu machen? Er erinnerte sich an die Spielzeugmacherin, die er in der Stadt gesehen hatte. An ihr war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Hatte seine Großmutter auch Puppen genäht? Nein, sie hatte ihren Gemahl vergiftet.
Rhius seufzte abermals. »Ich glaube nicht, dass deine Mama vorhatte, dir weh zu tun. Wenn sie einen ihrer schlimmen Anfälle hatte, wusste sie nicht, was sie tat. Verstehst du, was ich dir sage?«
Tobin verstand es ganz und gar nicht, nickte jedoch trotzdem in der Hoffnung, seinen Vater damit zufrieden zu stellen. Er wollte jetzt nicht an seine Mutter denken. Wenn er es tat, schien er zwei verschiedene Menschen zu sehen, und das jagte ihm Angst ein. Die gemeine, unnahbare Frau, die › schlimme Anfälle ‹ gehabt hatte, war immer Furcht einflößend gewesen. Die andere – die ihm gezeigt hatte, wie man Buchstaben nachfuhr, die rittlings mit im Wind wehenden Haar ritt und nach Blumen duftete – sie war eine Fremde, die ihn eine kurze Weile besucht und danach wieder verlassen hatte. In Tobins Verstand war sie aus dem Turm wie einer ihrer Vögel verschwunden.
»Eines Tages wirst du es verstehen«, meinte sein Vater. Er zog Tobin hoch und betrachtete ihn. »Du bist etwas ganz Besonderes, mein Kind.«
Der Dämon, der sich bislang völlig ruhig verhalten hatte, riss einen Behang von der Wand auf der gegenüberliegenden Seite der Halle und fetzte ihn heftig mitten entzwei, so heftig, dass sogar die Holzstange zerbrach, an der er befestigt war. Klappernd fiel das Ding zu Boden, aber Tobins Vater achtete nicht darauf.
»Du bist noch zu jung, um darüber nachzudenken, aber ich verspreche dir, wenn du erwachsen bist, wirst du ein großer Krieger sein. Du wirst in Ero leben, und jeder wird sich vor dir verneigen. Alles, was ich getan habe, Tobin, habe ich für dich getan, und für Skala.«
Tobin brach in Tränen aus und drückte das Gesicht neuerlich gegen die Brust seines Vaters. Es kümmerte ihn nicht, ob er je in Ero oder einer anderen Stadt leben würde. Er wollte nur nicht diesen seltsamen, neuen Ausdruck im Gesicht seines Vaters sehen. Er erinnerte ihn zu sehr an seine Mutter.
Die mit den schlimmen Anfällen.
Am nächsten Tag sammelte Tobin die Pergamente, Federkiele und Tintenfässchen ein und verstaute sie in einer unbenutzten Truhe in seinem Schlafzimmer, dann legte er die Puppe darunter, verborgen in einem alten Mehlsack, den er auf dem Küchenhof gefunden hatte. Er wusste, dass dies ein gewagtes Versteck darstellte, aber er fühlte sich ein wenig besser, wenn er die Puppe in der Nähe hatte.
Danach konnte er im Spiegel am Waschtisch in seine umwölkten Augen blicken und die Worte Meine Mama ist tot formen, ohne dabei irgendetwas zu empfinden.
Wann immer jedoch sein Verstand zu den Fragen ausscherte, weshalb sie tot war oder was sich an jenem Tag im Turm ereignet hatte, stoben seine Gedanken auseinander wie eine Handvoll verschütteter Bohnen, und ein heiß lodernder Schmerz setzte unter seinem Brustbein ein, so schlimm, dass er kaum atmen konnte. Es schien besser, überhaupt nicht daran zu denken.
Mit der Puppe verhielt es sich anders. Er wagte nicht, irgendjemandem von ihr zu erzählen, doch er konnte auch nicht von ihr lassen. Das Bedürfnis, sie zu berühren, weckte ihn mitten in der Nacht und zog ihn zu der Truhe. Einmal schlief er sogar auf dem Boden ein und erwachte gerade noch rechtzeitig, um die Puppe vor Nari zu verstecken, die am nächsten Morgen kam, um ihn zum Frühstück zu rufen.
Danach suchte er ein neues Versteck dafür und entschied sich letztlich für eine Truhe in einem der verfallenen Gästezimmer oben. Es schien niemanden mehr zu kümmern, wenn er dort hinaufging. Sein Vater verbrachte die meiste Zeit in seiner Kammer, in der er sich einschloss. Da ein Großteil der Bediensteten mittlerweile geflüchtet oder entlassen worden war,
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