Tamir Triad 02 - Die verborgene Kriegerin
des Orakels. Tobin hatte völlig vergessen gehabt, dass er sie dort versteckt hatte. Sie landete zu Füßen eines bärtigen Unteroffiziers, der sie zögerlich aufhob. Als Arkoniel dem Mann bedeutete, zu bleiben, wo er war, hob er sie hoch und flüsterte: »Ich hebe sie für Euch auf, mein Prinz, in Ordnung?«
Dann stand plötzlich Bruder neben Tobin und beobachtete ihn mit hungrigen, schwarzen Augen. Nach dem jähen Geschrei und Ächzen ringsum zu urteilen, konnten ihn auch andere sehen.
»Deine Kleider«, sagte Arkoniel leise. »Du musst sie ausziehen. Ki, hilf ihm.«
Bruder zischte, als sich Ki näherte, versuchte jedoch nicht, ihn aufzuhalten. Tobin gestattete sich keine Zeit, um nachzudenken oder zu zögern; er nahm den Schwertgurt ab, zog den geriffelten Mantel und das Hemd aus und reichte alles Ki. Bruders Gegenwart bescherte ihm eine Gänsehaut. Der Geist stand dicht neben ihm, nunmehr mit nackter Brust. Tobin schlüpfte rasch aus den Stiefeln, den Socken, der Hose und, nach kurzen Zweifeln, auch aus der Leinenunterhose. Ki bedachte ihn mit einem matten Lächeln, als er die Kleider entgegennahm und dem Stapel hinzufügte. Auch er hatte Angst und versuchte, es nicht zu zeigen.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte Tobin, hob sich die Kette über den Kopf und streckte sie Ki entgegen. »Heb das für mich auf.«
Ki schloss die Faust um den Ring und das Siegel und hob die Hand ans Herz, um vor Tobin zu salutieren, als er an seinen Platz neben Tharin zurücktrat.
Splitternackt drehte sich Tobin der Menge zu und tastete nach dem Knochensplitter. Da war er, unmittelbar unter der Haut. Die winzigen Erhöhungen von Lhels Naht fühlten sich rau unter seinen Fingerspitzen an.
»Rasch!«, zischte Bruder.
Tobin blickte ein letztes Mal in die schwarzen Augen seines Zwillings, als er das Silbermesser anhob. »Ja.«
Er umfasste den Klumpen mit zwei Fingern und drückte die Spitze des Messers gegen die straff gespannte Haut. Zwar konnte er nicht sehen, was er tat, aber er besaß geschickte Hände. Als das Messer die Haut durchdrang, verzog er das Gesicht. Blut quoll hervor.
»Schneid tiefer«, drängte ihn Bruder.
Tobin presste die Klinge fester gegen die Haut und drehte das Messer. Ein sengendes Feuer durchzuckte ihn, als die Spitze auf ihr Ziel stieß. Er sackte auf die Knie, und das Messer landete klirrend neben ihm auf der Steintreppe.
»Befrei mich!«, schrie Bruder und kauerte sich hin, um Tobin die blutende Wunde auf der eigenen Brust zu zeigen. Weiteres Blut rann in Form von scharlachroten Tränen seine Wangen hinab. »Es tut weh! Beende es!«
Keuchend presste Tobin die Augen zu und schüttelte den Kopf. Die Schmerzen waren unerträglich.
»Tu es!«, rief eine Frau. »Es muss jetzt geschehen, Tochter!«
Tobin schlug die Lider auf und erblickte die Geister.
Sie bildeten einen Kreis um ihn, alle gekrönt, alle mit dem Schwert Ghërilains aufrecht vor sich. Tobin erkannte sie nicht – die Steinbildnisse in der Gruft waren zu grob gewesen, um ihre lebendigen Züge festzuhalten –, dennoch wusste er, wer sie waren. Ghërilain, die Erste, stand da und beobachtete ihn, ebenso seine blutverschmierte Großmutter. Und jener abgehärmte Mann mit dem traurigen Gesicht neben ihnen – er musste Thelátimos sein, der letzte rechtmäßige König.
Kühle Finger strichen über Tobins Stirn. Er schaute in ein Antlitz auf, das er schon einmal gesehen hatte. Es war Tamír, die gemeuchelte Königin. Sie hatte ihm zugerufen, und auch nun ergriff wieder sie das Wort. Mut, Tochter. Es muss jetzt geschehen – für Skala.
Jemand gab ihm das Messer zurück in die Hand. Es war Ki. Er weinte, als er neben Tobin kniete.
»Du kannst es«, flüsterte er, ehe er sich wieder zurückzog. Dabei sah er aus, als schickte er Tobin zu dessen Hinrichtung.
Tobin hob das Messer an. Schmerzen ließen ihn die Lippen zu einem Knurren verziehen, als er tiefer bohrte. Er hatte sich immer vorgestellt, der winzige Knochen würde wie ein Splitter herausgleiten, doch das Fleisch war daran festgewachsen wie die Rinde eines Baumes, die um einen in sie geschlagenen Nagel verheilt war. Abermals drehte er die Klinge herum, und er hörte jemanden kreischen. Es klang wie Bruder, aber auch seine eigene Kehle fühlte sich rau vor Gebrüll an.
Endlich löste sich der kleine Brocken, umhüllt von einem breiigen Klumpen rohen Fleisches. Tobin blieb kaum Zeit, ihn zwischen den Fingern zu spüren, ehe ihn ein neuer Schwall von Qualen umfing, schlimmer als
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