Tamir Triad 03 - Die prophezeite Königin
einer anderen Frau zu erkennen, die unmittelbar hinter ihr stand. Das Gesicht war unkenntlich, doch Tamír konnte eine Krone und ein Schwert ausmachen.
»Guten Morgen, Großmutter«, flüsterte sie und fragte sich, welcher Geist es diesmal sein mochte.
»Nur eine Königin kann darin eine Königin sehen«, erklärte Imonus. »Es ist gut, dass Ihr sie mit solchem Respekt grüßt. Aber ich denke, Geister sind Euch nicht fremd.«
Tamír senkte die Hand. »Ich dachte, es wäre vielleicht bloß ein Schatten.«
»Das wisst Ihr doch besser.« Der Mann klang belustigt.
Es beunruhigte Tamír, mit dieser ausdruckslosen Maske zu sprechen. »Könnt Ihr dieses Ding abnehmen? Es ist ja sonst niemand hier.«
»Nicht, solange ich diene, Hoheit. Nicht einmal für Euch.«
»Oh.« Einen Augenblick zappelte sie unter dem teilnahmslosen Blick, dann hielt sie die Eulenfedern hoch, die sie mitgebracht hatte. »Ich bin gekommen, um eine Opfergabe darzubringen und eine Frage zu stellen. Allerdings kenne ich noch nicht die richtigen Gebete.«
»Legt Eure Opfergabe ab und stellte Eure Frage. Illior wird Euch Gehör schenken.«
Als sich Tamír bückte, um die Federn auf das Kohlenbecken zu werfen, flog etwas über ihre Schulter, fiel in die Glut, versprengte einige Kohlen und ließ Funken aufstieben. Eine knorrige, kleine Wurzel lag in den Flammen. Sie begann zu rauchen und fing Feuer. Der Geruch von Erde und Harz stieg auf.
Also bist du hier, dachte sie.
Bruder hatte derlei Opfergaben in dem Hausschrein der Feste dargebracht: Wurzeln, Eicheln, Laub, tote Maulwürfe.
Sie sah sich um, entdeckte jedoch abgesehen von der Wurzel keine Anzeichen auf ihn.
»Schatten und Geister umgeben Euch«, sagte Imonus leise.
Trotz der warmen Sonne in ihrem Nacken lief Tamír ein Schauder über den Rücken. »Seht Ihr meinen Bruder?«
Imonus nickte. »Er hat Euch großen Schmerz verursacht, und Ihr ihm. Er sucht Euch immer noch heim.«
»Ja«, flüsterte Tamír. Sie bedachte Ki mit einem verkniffenen Halblächeln und sank vor dem Priester auf ein Knie, damit sie leise reden konnte. »Deshalb bin ich heute hergekommen. Er will etwas von mir, aber er spricht in Rätseln, und er lügt. Gibt es einen Zauber, den Ihr einsetzen könntet?«
»Wisst Ihr, was er begehrt?«
»Ja, aber nicht, wie ich es ihm geben kann. Ihr dient dem Orakel. Könnt Ihr mir helfen, mehr herauszufinden?«
»Wie Ihr richtig sagt, bin ich nur ein Diener. Es ist an der Zeit, dass Ihr in die Fußstapfen Eurer Ahninnen tretet, Tamír Ariani Agnalain, und Afra selbst besucht. Das Orakel sieht weiter als jeder Priester.«
»Der Ort liegt viele Tagesreisen entfernt. Ich habe hier so viel zu tun, und ich muss mein Volk nach Atyion bringen.«
»Ihr müsst dorthin reisen, Tochter der Ariani. Jede Königin ist dorthin gepilgert, um das Geschenk des Lichtträgers zu ehren und um Geleit für ihre Herrschaft zu ersuchen.«
Tamír versuchte vergeblich, ihre Ungeduld zu unterdrücken. »Dann könnt Ihr mir also nicht helfen?«
»Das habe ich nicht gesagt, Hoheit. Ich sage lediglich, dass ich Eure Frage nicht beantworten kann. Ihr könnt noch eine Opfergabe darbringen. Werft eine Münze in den Korb, und ich zeige Euch, wie.«
Tamír kramte einen Sester aus ihrem Geldbeutel und schnippte ihn in den Korb zu den übrigen Geldgaben. Imonus beugte sich hinab und ergriff ein kleines Stoffbündel aus einem zugedeckten Topf zu seinen Füßen. »Kniet vor das Kohlenbecken. Legt hiermit eine weitere Feder auf die Glut und badet das Gesicht im Rauch.«
Tamír tat, wie ihr geheißen. Die Feder fing sofort Feuer und schrumpelte zu Asche. Das Weihrauchbündel brannte langsamer und entfesselte eine Wolke süßlich riechenden Rauchs. Statt jedoch wie zu einem guten Zeichen gerade aufzusteigen, rollte er wie tastende Finger in sich windenden Ranken von den Kohlen.
»Was bedeutet das?«, fragte Tamír erschrocken, als sich der Rauch um sie kräuselte.
»Dieser Rauch ist der Odem des Lichtträgers. Atmet ihn ein, Hoheit, dann erhaltet Ihr vielleicht Eure Antwort.«
Etwas beklommen fächelte sich Tamír den Rauch ins Gesicht und atmete tief ein. Er war süßlich und stark, aber nicht unangenehm, wenngleich er ihr ein leichtes Schwindelgefühl vermittelte.
Der Rauch umhüllte sie. In dem Bündel musste sich mehr Weihrauch befunden haben, als sie gedacht hatte, denn mittlerweile war er so dicht geworden, dass er den Tempel und den Hof vollständig verbarg. Hustend versuchte sie, ihn vor ihrem Gesicht zu
Weitere Kostenlose Bücher