Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
Charakter dieses Grafen.«
»Vielleicht. Aber Martel war ein Meister, wenn es um die Beeinflussung der richtigen Leute ging. Jedenfalls gelang es ihm, einen kleinen Krieg zwischen Gerrich und Patriarch Ortzels Bruder vom Zaun zu brechen. Dieser Krieg hat den Horizont des Grafen offensichtlich ein wenig geweitet. Jetzt interessiert er sich sogar für den Thron.«
»Armer Freddie.« Ehlana seufzte. König Friedahl von Lamorkand war ein entfernter Vetter. »Ich möchte seinen Thron nicht geschenkt. Aber worüber macht die Kirche sich Sorgen? Freddies Streitkräfte sind stark genug, sich eines ehrgeizigen Grafen zu erwehren.«
»So einfach ist das nicht, Liebling. Gerrich hat Bündnisse mit anderen Edlen in Westlamorkand geschlossen und inzwischen eine Armee um sich geschart, die fast so mächtig ist wie die des Königs. Und er hat offenbar Gespräche mit den pelosischen Baronen um den Vennesee geführt.«
»Diese Banditen!« sagte Ehlana abfällig. » Jeder kann sie kaufen!«
»Du kennst dich in der Politik dieser Region gut aus, Ehlana.«
»Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, Sperber. Pelosien liegt hinter der Nordostgrenze des Reiches. Stellen diese Unruhen eine Bedrohung für uns dar?«
»Im Moment nicht. Gerrich hat den Blick begehrlich nach Osten gerichtet – auf die Hauptstadt.«
»Vielleicht sollte ich Freddie unsere Unterstützung anbieten«, überlegte sie laut. »Falls es dort tatsächlich zu einem Krieg kommt, dann könnte ich ein schönes Stück von Südwestpelosien für uns abzweigen.«
»Haben wir territoriale Ambitionen, Majestät?«
»Nicht heute nacht, Sperber«, versicherte sie ihm. »Da beschäftigt mich ganz etwas anderes.« Und sie schlang wieder die Arme um ihn.
Es war viel später, fast schon Morgen. Ehlanas regelmäßiger Atem verriet Sperber, daß sie schlief. Er glitt aus dem Bett und trat ans Fenster. Seine Jahre militärischer Ausbildung hatten es ihm zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag, noch vor Sonnenaufgang, einen Blick aufs Wetter zu werfen.
Der Regen hatte nachgelassen, doch der Wind blies stürmischer. Das Frühjahr war gerade erst angebrochen, und in den nächsten Wochen konnte man noch kaum mit schönem Wetter rechnen. Sperber war froh, daß er bereits zu Hause war, denn der kommende Tag sah nicht sehr vielversprechend aus. Er blickte hinaus auf die flackernden, unregelmäßig brennenden Fackeln auf dem windigen Hof.
Wie immer bei schlechtem Wetter wanderten Sperbers Gedanken zurück zu den Jahren, die er in der heißen Stadt Jiroch an der von Dürre heimgesuchten Nordküste Rendors zugebracht hatte, wo die verschleierten und schwarzvermummten Frauen im ersten stahlgrauen Licht des Morgens zum Brunnen pilgerten, und wo die Frau, die sich Lillias nannte, ihm jede Nacht die Zeit mit ihrer Liebe vertrieben hatte – dem, was sie für Liebe hielt. Auch an die Nacht in Cippria, als es Martels Henkersknechten beinahe gelungen wäre, ihm den Lebensfaden zu durchschneiden, dachte Sperber zurück. Doch er hatte die Rechnung mit Martel in Azashs Tempel in Zemoch beglichen; deshalb bestand kein Grund, sich den Viehhof in Cippria oder die Klosterglocken in Erinnerung zu rufen, die ihn aus der Dunkelheit gerufen hatten.
Das flüchtige Gefühl, beobachtet zu werden, das Sperber auf der engen Gasse befallen hatte, ließ ihm noch immer keine Ruhe. Irgend etwas ging vor sich, das er nicht verstand. Sperber wünschte sich inbrünstig, mit Sephrenia darüber reden zu können.
2
»Majestät!« rief Graf von Lenda bestürzt. »Ihr könnt Euch doch dem Erzprälaten gegenüber nicht einer solchen Sprache bedienen!« Lenda starrte stirnrunzelnd auf das Schreiben, das die Königin ihm soeben zu lesen gegeben hatte. »Fehlt nur noch, daß Ihr ihn einen Dieb und Schurken schimpft!«
»Ach, habe ich das vergessen?« fragte Ehlana. »Wie konnte ich nur!« Sie hatten sich in der blauen Ratskammer eingefunden, wie üblich zu dieser Vormittagsstunde.
»Könnt Ihr nicht mit ihr reden, Sperber?« flehte Lenda.
»O Lenda!« Ehlana lachte und schenkte dem gebrechlichen alten Mann ein Lächeln. »Das ist doch bloß ein Entwurf! Ich war ein wenig verärgert, als ich ihn verfaßte.«
»Ein wenig? «
»Ich weiß, daß wir das Schreiben nicht in dieser Form absenden können, Graf. Ich wollte lediglich, daß Ihr meine Gefühle in dieser Angelegenheit kennt, ehe wir es umformulieren und uns einer diplomatischen Sprache bedienen. Ich will nur deutlich machen, daß Dolmant seine Befugnisse
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