Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
bronzefarbenes Gesicht wirkte ein wenig weicher als sonst. Er deutete auf die Gipfel. »Atan, Sperber-Ritter«, erklärte er. »Meine Heimat!«
»Ein beeindruckendes Land, Atan Engessa«, erwiderte Sperber. »Wie lange seid Ihr ihm fern gewesen?«
»Fünfzehn Jahre.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Das ist es wahrhaftig, Sperber-Ritter.« Engessa warf einen Blick über die Schulter auf die Karosse, die hinter ihnen herrollte. Zalasta hatte Stragens Platz in der Kutsche eingenommen, und Danae saß auf Mirtais Schoß. »Wir kennen einander inzwischen recht gut, nicht wahr, Sperber-Ritter?« sagte der Atan.
»Das will ich meinen«, bestätigte Sperber. »Unsere Völker haben unterschiedliche Sitten und Gebräuche, aber es scheint uns gelungen zu sein, solche Hürden zu nehmen.«
Engessa lächelte leicht. »Ihr wart ein guter Unterhändler für Atana Mirtai und Domi Kring.«
»Vernünftige Menschen finden in der Regel vernünftige Möglichkeiten, mit anderen auszukommen.«
»Elenier halten viel von Vernunft, nicht wahr?«
»Das gehört zu unseren Eigenheiten, würde ich sagen.«
»Ich möchte Euch etwas über eine unserer Sitten erklären, Sperber-Ritter. Vielleicht kann ich das nicht gut; denn ich bin nicht sonderlich gewandt in Eurer Sprache. Aber ich möchte gern, daß Ihr es den anderen erklärt.«
»Ich werde mein Bestes tun, Atan Engessa.«
»Atana Mirtai wird den Reiferitus vollziehen, während sie in Atan ist.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Bei unserem Volk ist es Sitte, daß ein Kind vor dem Ritus seine Kindheit in Gedanken wiedererlebt, und es ist wichtig, daß seine Familie dabei ist. Ich habe mit Atana Mirtai gesprochen. Ihre Kindheit war nicht glücklich. Viele ihrer Erinnerungen werden schmerzvoll sein. Die Menschen, die sie lieben, müssen ihr zur Seite stehen, während sie diese Erinnerungen hinter sich läßt. Würdet Ihr EhlanaKönigin und den anderen erklären, was geschehen wird?«
»Das werde ich, Engessa-Atan.«
»Die Atana wird zu euch kommen, wenn sie bereit ist. Es ist ihr Recht, ihre Helfer zu erwählen. Manche Wahl mag Euch überraschen, doch in meinem Volk erachtet man es als Ehre, erwählt zu werden.«
»Es wird auch für uns eine Ehre sein, Engessa-Atan.«
Sperber informierte die anderen kurz darüber, daß Mirtai bald zu einer Zusammenkunft laden würde. Er beließ es dabei, da er selbst noch keine genaue Vorstellung hatte, was sie erwartete.
An diesem Abend schritt die atanische Riesin ungewohnt schüchtern durch das Lager. Sie forderte niemanden, wie man vielleicht erwartet hatte, gebieterisch zur Teilnahme auf, sondern ersuchte fast flehend darum, und sie machte einen sehr verletzlichen Eindruck. Mirtai erwählte hauptsächlich Personen, mit denen Sperber gerechnet hatte – jene Menschen, die ihr während ihrer letzten Sklavenjahre am nächsten gestanden hatten. Doch gab es auch einige Überraschungen; darunter zwei Pandioner, von denen Sperber gar nicht gewußt hatte, daß Mirtai sie kannte, sowie zwei von Krings Peloi und zwei Atanerinnen aus Engessas Legionen. Auch Emban und Oscagne ersuchte sie, sich ihre Geschichte anzuhören.
An diesem Abend kamen sie alle an einem großen Feuer zusammen, und Engessa sprach ein paar Worte zu den Anwesenden, ehe Mirtai begann.
»Es ist Sitte in unserem Volk, die Kindheit abzulegen, ehe man erwachsen wird«, erklärte er feierlich. »Atana Mirtai wird in Kürze durch die Riten der Reife gehen, und sie hat uns gebeten, bei ihr zu sein, wenn sie ihre Vergangenheit ablegt.« Er machte eine Pause, ehe er nachdenklich fortfuhr. »Dieses Kind ist nicht wie andere atanische Kinder. Und auch ihre Kindheit verlief vollkommen anders; denn Atana Mirtai kehrt aus der Sklaverei zurück. Sie hat sie überlebt und ist zu uns heimgekehrt. Ihre Kindheit war länger als die der meisten. Sie hat viel Fremdartiges – und Schmerzliches – erlebt. Wir werden ihr voll Liebe zuhören, auch wenn wir nicht alles verstehen.« Er wandte sich an Mirtai. »Am besten beginnst du mit dem Ort deiner Geburt, meine Tochter«, riet er ihr.
»Ja, Vater-Atan«, antwortete sie höflich. Da Engessa die Elternrolle angenommen hatte, war Mirtais Erwiderung der Tradition entsprechend respektvoll. Jetzt sprach sie mit leiser Stimme; der übliche selbstbewußte Tonfall war verschwunden. Sperber hatte das Gefühl, daß sie plötzlich eine andere Mirtai vor sich hatten – ein sanftes, empfindsames Mädchen, das hinter einer schroffen Fassade verborgen gewesen
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