Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
Platzes.
Er zog Sperber und Vanion zur Seite. »Meine Herren«, fragte er mit besorgter Miene, »wie gut kennt ihr Zalasta?«
»In Sarsos bin ich ihm erst das zweite Mal begegnet«, antwortete Sperber. »Hochmeister Vanion kennt ihn viel besser als ich.«
»Ich habe so einige Zweifel, was seine legendäre Weisheit angeht«, erklärte Oscagne. »Die styrische Enklave in Ostastel grenzt unmittelbar an Atan, folglich müßte Zalasta mehr über diese Leute wissen, als es den Anschein hat. Ich kam gerade hinzu, als er den Peloi und einigen der jüngeren Ordensritter vorschlug, ihre kämpferischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.«
»Das ist nicht ungewöhnlich, Exzellenz.« Vanion zuckte die Schultern. »Junge Männer brüsten sich damit.«
»So habe ich das nicht gemeint, Hochmeister Vanion.« Oscagnes Miene wirkte nun noch besorgter. »So etwas ist hier in Atan nicht anzuraten, denn es führt rasch zu Blutvergießen. Die Ataner betrachten solche Kämpfe als Herausforderung. Ich konnte gerade noch rechtzeitig einschreiten, um eine Katastrophe zu verhindern. Was hat dieser Mann sich nur dabei gedacht?«
»Styriker sind mitunter ziemlich weltfremd«, erklärte Vanion. »Ich werde Sephrenia bitten, mit ihm zu reden und ihn zu ersuchen, achtsamer zu sein.«
»Da ist noch etwas anderes, meine Herren.« Jetzt lächelte Oscagne. »Sorgt bitte dafür, daß Ritter Berit nicht allein in der Stadt unterwegs ist. Ganze Scharen lediger Atanerinnen haben ein Auge auf ihn geworfen.«
»Auf Berit?« wunderte sich Vanion.
»Das ist nicht das erste Mal, Vanion.« Auch Sperber lächelte nun. »Unser junger Freund hat etwas an sich, auf das junge Frauen fliegen. Ich glaube, es hat etwas mit seinen Wimpern zu tun. Ehlana und Melidere haben versucht, es mir zu erklären. Ich verstand es zwar nicht, aber ich glaubte ihnen trotzdem.«
»Erstaunlich!« murmelte Vanion.
Überall brannten Fackeln, und der würzige, leichte Nachtwind wiegte ihre rußig-orangenen Flammen wie ein feurig goldenes Ährenfeld. Die Zeremonie des Reiferitus' fand auf einer weiten Wiese außerhalb von Atana statt. Ein alter, mit Wiesenblumen geschmückter Steinaltar stand zwischen zwei mächtigen Eichen mitten auf der Wiese, und zwei beckenförmige Öllampen flackerten neben beiden Schmalseiten des Altars.
Ein Ataner mit schlohweißem Haar stand allein auf der Stadtmauer und beobachtete angespannt den Mondschein, der durch eine schmale, waagerechte Öffnung in der Brustwehr auf die Vorderseite einer nahen Wand fiel, die in regelmäßigen Abständen mit tief gefurchten Linien markiert war. Das war zwar keine sonderlich präzise Methode, die Zeit zu messen, doch wenn jeder sich damit zufriedengab, daß es Mitternacht war, sobald das Mondlicht auf eine bestimmte Markierung traf, war Genauigkeit unwichtig. Solange Einigkeit herrschte, war Mitternacht.
Die Nacht war still; nur die flackernden Fackeln knisterten und der Wind rauschte in dem dunklen Wald, der die Wiese umgab.
Die Menschen warteten stumm, während der waagerechte Streifen Mondlicht allmählich die Wand hinunterglitt.
Dann gab der greise Ataner ein Zeichen, und ein Dutzend Bläser hoben ihre bronzenen Hörner, um den neuen Tag zu begrüßen und den Beginn des Rituals anzukünden, das Mirtais Kindheit beenden würde.
Die Ataner sangen eine Melodie ohne Text; denn dieses Ritual war zu heilig, als daß Worte hätten benutzt werden dürfen. Ihr Gesang begann mit einem tiefen Männerbaß und schwoll an, als mehr und mehr Stimmen einfielen und zu einem kanongleichen Chor verschmolzen.
König Androl und Königin Betuana schritten majestätisch auf einem breiten, fackelerhellten Weg zu den uralten Bäumen und dem blumengeschmückten Altar. Ihre bronzefarbenen Gesichter waren freundlich, und ihre goldenen Helme schimmerten im Fackellicht. Als sie den Altar erreichten, wandten sie sich erwartungsvoll um.
Eine Pause setzte ein, während der die Fackeln aufflammten und der Chorgesang der Ataner anschwoll. Dann verklang die Melodie in einem verhaltenen Summen.
Engessa und Ehlana, beide in tiefblaue Wollroben gewandet, geleiteten Mirtai aus den Schatten der Stadtmauer. Mirtai war schlicht in Weiß gekleidet; ihr rabenschwarzes Haar trug sie offen und ohne Zier. Sie hatte die Augen demutsvoll gesenkt, während ihre Eltern sie zum Altar führten.
Der Gesang setzte wieder ein – mit neuer Melodie und neuem Takt.
»Das Kind wird herbeigeführt«, murmelte Norkan Sperber und den anderen zu. Die Stimme des
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