Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
keine Fremden auf dieser Welt, liebe Schwester, lieber Bruder – es gibt nur Freunde, die wir lediglich noch nicht kennengelernt haben.«
»Das ist doch nicht von ihr, oder?« flüsterte Stragen Sperber zu.
»Nein. Aber wenn sie irgendwo eine Phrase aufschnappt, die ihr gefällt, sieht sie keinen Grund, sie sich nicht anzueignen.«
»Gewiß, mein Besuch in Atan ist eine Staatsreise. Uns, die wir den Königshäusern der Welt angehören, steht es nicht wie anderen frei, bestimmte Dinge aus persönlichen Gründen zu tun.« Sie lächelte dem atanischen Königspaar ein wenig bedauernd zu. »Wir dürfen nicht einmal gähnen, ohne daß diplomatische Schlüsse daraus gezogen werden. Niemand erwägt dann auch nur die Möglichkeit, daß wir bloß schläfrig sind.«
König Androl rang sich ein Lächeln ab, nachdem Norkan diese Worte übersetzt hatte.
»Mein Besuch in Atan hat indes neben dem offiziellen Grund auch einen persönlichen«, fuhr Ehlana fort. »Vor einiger Zeit gelangte ich durch Zufall an ein Kleinod, das den Atanern gehört, und ich bin um die halbe Welt gereist, euch diesen Schatz zurückzubringen, obgleich er mir teurer ist, als ich euch je beschreiben kann. Vor vielen, vielen Jahren ging ein atanisches Kind verloren. Dieses Kind ist das Kleinod, von dem ich sprach.« Sie streckte die Hand aus und faßte Mirtais. »Sie ist meine beste Freundin, und ich bin ihr unendlich zugetan. Ich wäre doppelt so weit – nein, zehnmal so weit – gereist um der Freude willen, die ich jetzt empfinde, da ich dieses geschätzte atanische Kind mit den Seinen wiedervereinen darf.«
Stragen wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Diese Wirkung hat sie jedesmal auf mich, Sperber.« Er lachte. »Ja, wahrhaftig, ein jedes Mal. Ich glaube, sie könnte Steine zum Weinen bringen, wenn sie es wollte. Und irgendwie scheint es ihr ganz leicht zu fallen.«
»Das ist eines ihrer Geheimnisse, Stragen.«
Ehlana fuhr bereits wieder fort. »Wie viele von euch wissen, haben Elenier manchen Fehler – viele Fehler, auch wenn ich es ungern zugebe. Wir haben euer liebes Kind nicht gut behandelt. Ein Elenier kaufte es von den seelenlosen Arjuni, die es euch gestohlen hatten. Der Elenier erstand es, um seine krankhaften Begierden zu befriedigen. Unser Kind – denn es ist nun ebensosehr mein Kind wie eures – lehrte diesen Mann, eine Atana nicht zu mißbrauchen. Es war eine harte Lektion, die ihm den Tod brachte.«
Nach der Übersetzung dieser Worte ging ein beifälliges Murmeln durch die Menge.
»Unser Kind ist durch die Hände mehrerer Elenier gegangen – von denen die meisten keine guten Absichten hatten – und kam schließlich zu mir. Anfangs hatte ich Angst vor der Atana.« Ehlana schenkte den Zuhörern ihr gewinnendstes Lächeln. »Es mag euch nicht entgangen sein, daß ich nicht sehr großgewachsen bin.«
Ein gutmütiges Lachen breitete sich in der Menge aus.
Ehlana stimmte in das Lachen ein. »Dachte ich mir doch, daß es euch aufgefallen ist. Es ist einer der Fehler unserer Kultur, daß unsere Männer starrsinnig und kurzsichtig sind. Ich weiß, es hört sich lächerlich an, aber ich darf nicht einmal mit eigener Hand meine Feinde töten. Ich habe nie Frauen gekannt, die sich selbst beschützen können, und so hatte ich törichte Furcht vor meinem atanischen Kind. Doch diese Furcht verging. Ich habe die Atana als treu und unerschütterlich kennengelernt, als sanft und liebevoll und als sehr, sehr klug. Wir sind nach Atan gekommen, auf daß unser geliebtes Kind das Silber der Kindheit ablege und durch den Ritus das Gold der Reife erlange. Elenier und Ataner, Styriker und Tamuler, laßt uns in der Zeremonie, die unser Kind zur Erwachsenen macht, Hände und Herzen verbinden, denn durch dieses Kind sind wir alle eine große Familie.«
Während Norkan übersetzte, regte sich ein erfreutes Murmeln in der Menge, das zum Beifallsgebrüll anschwoll. Königin Betuana stieg mit Tränen der Rührung in den Augen von der Plattform und umarmte die blasse blonde Königin von Elenien. Dann sprach sie kurz zu der Menge.
Stragen blickte Oscagne fragend an. »Was hat sie gesagt?«
»Sie hat ihre Untertanen gewarnt. Sie will persönlich jeden zur Rechenschaft ziehen, der sich eurer Königin gegenüber auch nur die geringste Unverschämtheit leistet. Und das ist keine leere Drohung, glaubt mir. Königin Betuana ist eine der besten Kriegerinnen von ganz Atan. Ich hoffe, Ihr wißt Eure Gemahlin zu würdigen, Sperber. Sie hat soeben einen
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