Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
übertrieben vor. Ich hatte das Gefühl, daß jemand angeben wollte. Es war – kindisch!«
Sie dachte darüber nach und verzog das Schmollmündchen ein wenig. »Vielleicht sind wir kindisch, Sperber. Es gibt nichts, was uns zwingt, erwachsen zu werden; deshalb steht es uns frei, in unserer Kindheit zu schwelgen. Diesen Zug habe ich sogar an mir selbst schon festgestellt.«
» An dir? «
»Ach, Vater«, rügte sie fast abwesend. Sie hatte die kleinen dunklen Brauen nachdenklich zusammengezogen. »Aber es ist nicht ganz aus der Luft gegriffen«, fügte sie hinzu. »Auch diesem Burschen in Astel, diesem Säbel, fehlte jegliche Reife. Außerdem war er nur eine Marionette. Vielleicht bist du tatsächlich auf eine unserer Schwächen gestoßen, Sperber. Es wäre mir allerdings lieb, wenn du es als einen allgemeinen göttlichen Mangel an geistiger Reife und nicht als meine persönliche Schwäche betrachten würdest. Mir selbst fällt es natürlich nicht so auf. Falls es wirklich eine unserer kleinen Unvollkommenheiten ist, bin ich ebenso davon betroffen wie die übrigen. Jeder von uns liebt es, die anderen zu beeindrucken, und es gilt bei uns als höflich, sich beeindruckt zu zeigen, wenn ein anderer seine Talente herausstreicht.« Sie verzog das Gesichtchen. »Das tun wir ganz unbewußt, fürchte ich. Behalte einen klaren Blick, Sperber. Daß man dir nicht so schnell etwas vormachen kann, mag sich noch als sehr nützlich erweisen. Aber schlaf jetzt bitte weiter. Ich bin wirklich sehr beschäftigt.«
Sie überquerten den Kamm des atanischen Gebirges und begaben sich über die östlichen Hänge hinunter zur Grenze zwischen Atan und Tamul, die abrupt und deutlich erkennbar war. Atan war eine Wildnis aus Bäumen und schroffen Bergen, Tamul hingegen ähnelte einem gepflegten Park. Die Felder waren ordentlich und regelmäßig angelegt, und sogar die Hügel sahen kunstvoll geformt aus, um einen Anblick zu bieten, der das Auge erfreut. Die Landbevölkerung machte einen fleißigen Eindruck, und ihre Gesichter wiesen nicht den Ausdruck hoffnungslosen Elends auf wie jene der Bauern und Leibeigenen der elenischen Königreiche.
»Organisation, mein teurer Emban«, sagte Oscagne zu dem dicken kleinen Kirchenherrn. »Unser Schlüssel zum Erfolg liegt in der Organisation. Alle Macht in Tamul kommt vom Kaiser, und alle Entscheidungen werden in Matherion getroffen. Wir schreiben unseren Bauern sogar vor, wann sie pflanzen und wann sie ernten sollen. Ich gebe zu, daß zentralisierte Planung ihre Nachteile hat, aber das Wesen der Tamuler scheint danach zu verlangen.«
»Elenier sind bedauerlicherweise viel weniger diszipliniert«, entgegnete Emban. »Mit fügsameren Schäfchen wäre die Kirche bedeutend glücklicher. Aber wir müssen nun mal mit dem zurechtkommen, was Gott uns gegeben hat.« Er lächelte. »Was soll's, es macht das Leben interessant.«
Sie erreichten Lebas an einem Spätnachmittag. Es war eine kleine, saubere Stadt mit für Elenier ausgesprochen fremdartiger Architektur, die stark zu kunstvoller Verzierung neigte. Die Häuser waren niedrig und breit, mit anmutigen Dächern, die sich am Firstende aufwärts krümmten, als hätten die Baumeister schroffe gerade Linien für unvollkommen befunden. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen waren breit und gerade, und von Bürgern in bunten Seidengewändern bevölkert.
Die Ankunft der Menschen aus dem Westen erregte beachtliches Aufsehen, da die Tamuler bisher noch nie elenische Ritter zu Gesicht bekommen hatten. Was sie jedoch am meisten beeindruckte, war die Königin von Elenien. Die Tamuler waren ein Volk mit bronzefarbener Haut und dunklem Haar, und die blasse, aschblonde Königin weckte Ehrfurcht in ihnen, als ihre Kutsche beinahe feierlich durch die Straßen rollte.
Ehlanas größte Sorge indes galt den Verwundeten. Oscagne versicherte ihnen, daß die tamulischen Ärzte zu den besten der Welt zählten. Offenbar war der Botschafter ein sehr einflußreicher Mann im Reich. Sofort wurde ein Haus für die verwundeten Ritter zur Verfügung gestellt, und auf Oscagnes Befehl hin erschienen umgehend Ärzte und Pfleger. Auch den anderen teilte man gut eingerichtete Häuser mitsamt Dienerschaft zu, die allerdings kein Wort Elenisch verstand.
»Ihr habt hier offenbar sehr großen Einfluß, Oscagne«, sagte Emban an diesem Abend nach einem exotischen Mahl, das aus Gängen um Gängen unbekannter Delikatessen von mitunter erstaunlichem Geschmack bestand.
»Es ist nicht mein
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