Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
ausgezeichnete Ordnungstruppen ab.« Er seufzte. »Euch ist vermutlich nicht entgangen, daß ich ›früher‹ sagte, denn bedauerlicherweise ist das jetzt nicht mehr der Fall. Ein Imperium, das sich aus grundlegend verschiedenen Völkern zusammensetzt, muß stets auf kleinere Ausbrüche von Nationalismus und rassischen Unzufriedenheiten gefaßt sein. Unbedeutende neigen dazu, nach Möglichkeiten zu suchen, ihre Wichtigkeit zu beweisen. Es ist pathetisch, aber Rassismus ist für gewöhnlich die letzte Zuflucht der Unbedeutenden, und ihre Aufstände sind meist lokal begrenzt. Doch plötzlich hat eine wahre Epidemie von Aufständen ganz Tamuli erfaßt. Jedermann näht Fahnen, singt Nationalhymnen und denkt sich Beleidigungen aus, mit denen er ›die gelben Hunde‹ treffen will. Das sind natürlich wir.« Er streckte die Hand aus und betrachtete sie prüfend. »Unsere Haut ist nicht wirklich gelb, wißt ihr. Sie ist eher …« Er überlegte.
»Beige?« meinte Stragen.
»Das ist auch nicht sehr schmeichelhaft, Durchlaucht Stragen.« Oscagne lächelte. »Was soll's? Vielleicht ernennt ja unser Kaiser eine Sonderkommission, die unsere Hautfarbe ein für allemal definiert.« Er zuckte die Schultern. »Wie dem auch sei, vereinzelte Ausbrüche von Nationalismus und Rassismus wären kein echtes Problem für die Ataner, selbst wenn es in jeder Stadt des Imperiums dazu käme. Es sind die unnatürlichen Vorfälle, die uns so beunruhigen.«
»Dachte ich mir doch, daß mehr dahintersteckt«, murmelte Ulath.
»Jede Kultur hat ihren Sagenhelden«, fuhr Oscagne fort, »irgendeine überragende Persönlichkeit, die das Volk vereinte, ihm ein nationales Ziel gab und seinen Charakter prägte. Die moderne Welt ist so kompliziert und verwirrend, daß der Mittelstand und die unteren Schichten sich nach der Überschaubarkeit des heldischen Zeitalters sehnen, als nationale Ziele noch deutlich waren und jeder wußte, wohin er gehörte. Irgend jemand in Tamuli holt die alten Helden ins Leben zurück.«
Sperber spürte plötzlich eine eisige Hand im Rücken. »Riesen?« fragte er.
»Nun …« Oscagne überlegte. »Vielleicht ist das tatsächlich die treffende Bezeichnung. Die Jahrhunderte verklären die Dinge, und unsere sagenumwobenen Helden erlangen Überlebensgröße. Ich nehme an, viele betrachten sie tatsächlich als Riesen. Das ist außerordentlich scharfsichtig, Ritter Sperber.«
»Eigentlich nicht, Exzellenz. Ihr müßt wissen, daß sich Ähnliches auch hier ereignet hat.«
Dolmant blickte ihn scharf an.
»Ich werde es später erklären, Sarathi. Bitte, erzählt weiter, Botschafter Oscagne. Ihr sagtet, wer immer die Dinge in Tamuli auslöste, hat damit begonnen, Helden ins Leben zurückzurufen. Das läßt darauf schließen, daß inzwischen noch mehr geschehen ist.«
»O ja, unglücklicherweise, Ritter Sperber. Viel, viel mehr. Jede Kultur hat außer ihren Helden auch ihre bösen Geister. Mit denen bekamen wir's zu tun: mit Ungeheuern, Dämonen, Werwölfen, Vampiren. Eben mit allem, womit Erwachsene Kindern angst machen, auf daß sie brav sind. Tja, mit solchen Gegnern sind unsere Ataner überfordert. Sie sind für den Kampf gegen menschliche Feinde ausgebildet, nicht gegen all die Alptraumgestalten, die phantasievolle Gehirne im Lauf der Äonen ausgebrütet haben. Das ist unser Problem. Wir haben neun unterschiedliche Kulturen in Tamuli, die sich plötzlich allesamt auf ihre traditionellen geschichtlichen Ziele besonnen haben. Schicken wir unsere Ataner, damit sie die Ordnung und die Autorität des Imperiums wiederherstellen, erscheinen diese Alptraumgestalten aus dem Nichts und stürzen sich auf sie. Dagegen sind wir machtlos. Das Imperium fällt auseinander; es löst sich in seine einzelnen Teile auf. Die Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät hofft, daß eure Kirche eine gewisse Interessengemeinsamkeit erkennt. Denn sollte Tamuli in neun einander bekriegende Reiche zerfallen, wird das entstehende Chaos mit Sicherheit auch in Eosien Auswirkungen haben. Es ist die Magie, die uns so beunruhigt. Wir sind durchaus imstande, normale Rebellionen niederzuschlagen, aber uns fehlen die Voraussetzungen, es mit einer kontinentweiten Verschwörung aufzunehmen, die magische Kräfte gegen uns einsetzt. Die Styriker um Sarsos sind verwirrt. Alles, was sie versuchen, wird zum Scheitern gebracht, kaum daß sie es einsetzen. Wir hörten Geschichten über die Geschehnisse in der Stadt Zemoch; Ihr persönlich seid es, an den ich mich
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