Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
es bald zu regnen aufhören, nicht wahr?« fragte Stragen. »Wie lange kann ein solches Wetter zu dieser Jahreszeit anhalten?«
»Da solltet Ihr lieber Khalad fragen. Er kennt sich da am besten aus.«
»Meine Herren?«
Stragen und Sperber drehten sich um.
Es war Elron, des Barons poetischer Schwager. »Ich kam heraus, um Euch zu versichern, daß meine Schwester und ich nicht für Kotyk und seine Verwandten verantwortlich sind«, sagte er.
»Das haben wir auch nicht angenommen, Elron«, murmelte Stragen.
»Sie besaßen nur eines auf der Welt: Kotyks Titel. Ihr Vater verlor ihr Erbe beim Spiel. Es dreht mir den Magen um, daß rücksichtslose Aristokraten so mit uns umspringen!«
»Wir hörten so allerlei Gerüchte«, änderte Stragen geschickt das Thema. »In Esos erzählten uns einige Leute, daß es Unruhen unter den Leibeigenen gibt. Uns ist eine wirre Geschichte zu Ohren gekommen, über einen Burschen, der sich ›Säbel‹ nennen läßt, und über einen anderen Mann namens Ayachin. Aber wir konnten uns keinen rechten Reim darauf machen.«
Elron schaute sich übertrieben verschwörerisch um. »Es ist unklug, diese Namen hier in Astel zu erwähnen, Durchlaucht Stragen«, sagte er in heiserem Flüsterton, der wahrscheinlich über den ganzen Hinterhof gehört werden konnte. »Die Tamuler haben ihre Ohren überall!«
»Die Leibeigenen sind unzufrieden mit den Tamulern?« fragte Stragen überrascht. »Ich hätte gedacht, daß es für ihren Haß näherliegende Ziele gäbe.«
»Die Leibeigenen sind abergläubische Tiere, Durchlaucht«, erklärte Elron abfällig. »Mit Religion, überlieferten Geschichten und Schnaps kann man ihnen alles weismachen. Der wirkliche Aufstand ist gegen die gelben Teufel gerichtet!« Elrons Pupillen verengten sich. »Die Ehre Astels verlangt, daß das tamulische Joch abgeschüttelt wird. Das ist das wahre Ziel der Bewegung. Säbel ist ein Patriot, eine geheimnisvolle Gestalt, die aus der Nacht erscheint, um die Asteler anzustacheln, sich zu erheben und die Ketten der Unterdrücker zu sprengen. Säbel ist immer maskiert, müßt ihr wissen.«
»Das hat man uns nicht gesagt.«
»Nicht? Nun, es ist erforderlich, denn Säbel ist eine bekannte Persönlichkeit, die ihre wahre Identität und Ansichten sehr sorgfältig verbirgt. Tagsüber ist er ein müßiger Edelmann, doch des Nachts wird er zum maskierten Fanal, das den Patriotismus seiner Landsleute entflammt.«
»Ich nehme an, daß Ihr Euch so Eure Gedanken darüber macht«, sagte Stragen.
Elrons Miene verriet plötzliche Vorsicht. »Ich bin nur ein Poet, Durchlaucht Stragen. Mein Interesse gilt dem Hauch des Dramatischen, von dem Säbel umwittert wird. Es ist meinem dichterischen Genie förderlich, versteht Ihr?«
»Oh, natürlich.«
»Und wie paßt dieser Ayachin ins Bild?« fragte Sperber. »Wenn ich es recht verstanden habe, ist er bereits seit geraumer Zeit tot.«
»In Astel tut sich Seltsames, Ritter Sperber«, versicherte Elron. »So mancherlei, was seit Generationen im Blut aller wahren Asteler schlummerte. Tief im Herzen wissen wir, daß Ayachin nicht tot ist. Er kann gar nicht sterben – nicht, solange die Tyrannei lebt.«
»Nur als kleines Gedankenspiel, Elron«, sagte Stragen geschickt, »diese Bewegung scheint ganz auf die Leibeigenen als Kämpfer zu bauen. Was haben die dabei zu gewinnen? Warum sollte es Menschen, die so sehr an die Scholle gebunden sind, überhaupt interessieren, wer an der Regierung ist?«
»Sie sind Schafe. Sie laufen blind in jede Richtung, in die man sie lenkt. Man braucht lediglich von Befreiung und Gleichberechtigung zu schwafeln, und sie würden einem selbst in die Hölle folgen.«
»Dann hat Säbel gar nicht wirklich die Absicht, die Leibeigenen zu befreien?«
Elron lachte. »Warum sollte ein vernünftiger Mensch das wollen?
Was hätte es für einen Sinn, Vieh freizulassen?« Er blickte sich verstohlen um. »Ich muß wieder ins Haus, bevor ich vermißt werde. Kotyk haßt mich und würde nichts lieber tun, als mich bei der Obrigkeit anzuschwärzen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu lächeln und höflich zu ihm zu sein – und zu diesen fetten Säuen, seinen Schwestern. Ich behalte meine Meinung für mich, meine Herren. Aber wenn der Tag unserer Befreiung kommt, wird es hier Veränderungen geben, so wahr mir Gott helfe. Gesellschaftliche Veränderungen sind manchmal nur mit Gewalt durchzusetzen, und ich garantiere, daß Kotyk und seine Schwestern den Morgen des neuen Tages nicht
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