Tamuli 1 - Die schimmernde Stadt
denen dieser ›Säbel‹ die Leute für sich gewinnt. Sagt man zu einem Mann, daß jemand vorhat, seine Frau und Kinder zu verkaufen, kann man sicher sein, daß er auf die Barrikaden geht.«
»Das paßt aber nicht so recht zu dem, was Baron Kotyk mir erzählte«, warf Patriarch Emban ein. »Der Baron trank vergangene Nacht mehr, als gut für ihn war, und er sagte so manches, was er ansonsten bestimmt für sich behalten hätte. Seiner Meinung nach hat dieser Säbel in Wahrheit die Absicht, die Tamuler aus Astel zu vertreiben. Um ehrlich zu sein, Sperber, ich konnte nicht recht glauben, was der Dieb in Esos über Säbel erzählte, aber dieser Mann hat zweifellos das Ohr der Edelleute. Er reitet auf den rassischen und religiösen Unterschieden zwischen Eleniern und Tamulern herum. Kotyk nannte die Tamuler mehrmals ›gottlose gelbe Hunde‹.«
»Wir haben Götter, Eminenz«, protestierte Oscagne milde. »Wenn Ihr mir ein bißchen Zeit zum Nachdenken gebt, fallen mir vielleicht sogar ein paar Namen ein.«
»Unser Freund Säbel ist sehr geschickt«, meinte Tynian. »Er hat Parolen sowohl für die Edelleute als auch für die Leibeigenen.«
»Ich glaube, das nennt man ›mit gespaltener Zunge reden‹«, bemerkte Ulath.
»Ich finde, das Reich sollte schleunigst herausfinden, wer dieser Säbel ist«, sagte Oscagne nachdenklich. »Etwas anderes wird man von uns ohnehin nicht erwarten. Wir brutalen Unterdrücker und gottlosen gelben Hunde möchten immer wissen, wer die Aufwiegler und Unruhestifter sind.«
»Damit ihr sie schnappen und aufhängen könnt?« fragte Talen anklagend.
»Nicht unbedingt, junger Mann. Naturtalente darf man nicht vergeuden. Ich bin sicher, wir finden Verwendung für diesen offensichtlich begabten Burschen.«
»Aber er haßt Euer Reich, Exzellenz!« gab Ehlana zu bedenken.
»Das muß nicht unbedingt etwas besagen, Majestät.« Oscagne lächelte. »Die Tatsache, daß jemand das Reich haßt, macht ihn nicht gleich zum Verbrecher. Jeder, der gesunden Menschenverstand besitzt, haßt das Reich, mitunter sogar der Kaiser. Das Auftauchen von Revolutionären ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß in der betreffenden Provinz keineswegs alles so ist, wie es sein müßte. Ein Revolutionär hat es auf seine Fahne geschrieben, auf Mißstände aufmerksam zu machen. Somit ist es auf lange Sicht einfacher, ihn gewähren und die Dinge in seinem Sinne regeln zu lassen. Ich kenne mehr als einen ehemaligen Revolutionär, der ein guter Provinzstatthalter geworden ist.«
»Das ist eine interessante Einstellung, Exzellenz«, sagte Ehlana, »aber wie bringt man Leute, die einen hassen, dazu, für einen zu arbeiten?«
»Man überlistet sie, Majestät. Man fragt sie ganz einfach, ob sie glauben, daß sie es besser machen könnten. Und das glauben sie ausnahmslos. Also braucht man ihnen bloß zu sagen, sie sollen es versuchen. Für gewöhnlich dauert es ein paar Monate, bis sie erkennen, daß sie benutzt wurden. Wenn Ihr Statthalter einer Provinz seid, habt Ihr das schlimmste Amt auf der Welt. Jedermann haßt Euch.«
»Wie paßt dieser Ayachin ins Bild?« fragte Bevier.
»Ich nehme an, er ist die einigende Kraft«, meinte Stragen. »Wie Fyrchtnfles in Lamorkand.«
»Nur eine Galionsfigur?« sagte Tynian.
»Wahrscheinlich. Man kann schließlich nicht ernsthaft erwarten, daß ein Held aus dem neunten Jahrhundert etwas von der heutigen Politik versteht.«
»Trotzdem ist das Ganze ein Rätsel«, meinte Ulath. »Die Edelleute haben eine andere Vorstellung von ihm als die Leibeigenen. Säbel muß zwei verschiedene Geschichten unter die Leute bringen. Wer war dieser Ayachin denn wirklich? «
Nun ergriff Emban das Wort. »Kotyk erzählte mir, er sei ein kleiner Edelmann gewesen, und ein großer Anhänger der astelischen Kirche. Im neunten Jahrhundert drangen von der Kirche fanatisierte Eosier ins Land ein. Euer Dieb in Esos hatte zumindest damit recht. Für die Asteler ist die Verehrung unserer Heiligen Mutter in Chyrellos Ketzerei. Ayachin hat angeblich die Edelleute um sich geschart und schließlich einen großen Sieg in den Astelischen Sümpfen errungen.«
»Die Version der Leibeigenen lautet anders«, warf Khalad ein. »Sie erzählen, daß Ayachin einer der ihren war, ein Leibeigener, der sich als Edelmann ausgab, und daß sein wahres Ziel die Befreiung vom Joch der Landherren war. Die Leibeigenen behaupten, den Sieg in den Sümpfen hätten sie errungen, nicht die Edelleute. Später, als die Edelleute
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