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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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gesellten sich zu uns, im Nu eine ganze Menge. Sie versuchten nicht, mich zu berühren. Sie standen auf ihrem Platz, starrten und redeten.
    »Sehen Sie«, sagte ein alter schwarzer Mann. »Haben Sie jemals über den Ancient Mariner gelesen?«
    Ich sagte, ich hätte, in der Schule.
    »Mußte jedem erzählen, was er getan hatte«, sagte der schwarze Mann. Die Frau neben ihm nickte nachdenklich. »Wir sind alles Ancient Mariners hier. Aber es gibt niemanden, dem wir es erzählen könnten. Würden Sie es wissen wollen?« Die Art, wie er fragte, war mitleiderregend. »Uns tut es leid. Wir wollen nur, daß jeder weiß, wie leid es uns tut.«
    »Ich kann Sie nicht mit zurück nehmen«, sagte ich. »Ich weiß nicht mal, wie ich selbst zurück komme.«
    »Wir können nicht zurück«, sagte die Frau. »Das ist kein Ort für uns.«
    Es kamen mehr Leute, und ich wurde wieder nervös. Ich stand auf meinem Platz, versuchte ruhig zu erscheinen, und die Toten versammelten um mich herum, erwartungsvoll.
    »Ich habe nie an irgendwen anderes gedacht, als mich selbst«, sagte jemand. Ein anderer unterbrach ihn mit:
    »Mann, ich habe mein ganzes Leben verschissen, ich habe alles und jeden gehaßt. Ich war ausgebrannt…«
    »Ich dachte, ich wär der Größte, könnte mir über jeden ein Urteil erlauben…«
    »Ich war die dümmste gottverdammte Frau, die sie je gesehen haben. Ich war eine Sau, ein Schwein. Ich warf Kinder und ließ sie ohne Erziehung verwildern. Ich war dumm und grausam. Ich gewöhnte mich daran, Wesen zu verletzen…«
    »Hab mich nie um jemanden geschert. Niemand hat sich je um mich gekümmert. Ich wurde inmitten einer Stadt zurückgelassen, um zu verrotten – und ich war nicht gut genug, um nicht zu verrotten.«
    »Alles, was ich nach meinem zwölften Lebensjahr tat, war eine Lüge…«
    »Hören Sie zu, Mister, weil es schmerzt, es schmerzt so sehr…«
    Ich lehnte mich gegen meinen Truck. Sie scharten sich nun wie organisiert um mich, nicht wie irgendein Mob. Ich hatte den verrückten Gedanken, daß sie sich besser verhielten als irgendwelche Leute auf der Erde, aber dies waren die Verdammten.
    Ich hörte oder sah niemand Berühmtes. Ein Expolizist erzählte mir über das, was er den Leuten im Gefängnis angetan hatte. Ein Jesusfreak sagte mir, daß Jesus mit dem Herzen zu erkennen nicht genug war. »Weil ich es eigentlich geschafft haben müßte, Mann, ich müßte es sonst geschafft haben.«
    »Es kam eine Zeit, in der ich unter der Last von allem zusammenbrach, ich ruinierte mich regelrecht. Trampelte auf mir selbst herum und traf die falschen Entscheidungen…«
    Sie erklärten sich mir, und ich begann zu weinen. Ihre Gesichter waren so klar und so rein, jetzt waren sie hier, erklärten sich, und außer vielleicht einigen besonderen Fällen – wie dem Typen, der nach dem Zweiten Weltkrieg in russischen Lagern Ukrainer umgebracht hatte – hörten sie sich nicht schlimmer an als die verrückten Hurensöhne, die ich zu meinen Freunden zählte, die ihr Leben in Trucks und Bars und Puffs verbrachten.
    Sie waren alle neu. Ich bekam den Eindruck, daß die Verdammten älter wurden, je tiefer man in die Hölle kam, was Sinn machte; die Hölle wurde größer, wenn die Schwünge der Verdammten größer wurden, mit mehr Raum in den äußeren Bezirken.
    »Wir verschwendeten es«, sagte jemand. »Wissen Sie, was meine größte Sünde war? Ich war trübsinnig. Trübsinnig und grausam. Ich sah niemals Schönheit. Ich sah nur Dreck. Ich liebte den Dreck, und die Sauberkeit entging mir.«
    Bald schon flossen meine Tränen ungehemmt. Ich kniete neben dem Truck nieder, verbarg meinen Kopf, aber es kamen immer mehr und erklärten sich. Hunderte mußten schon vorbeigekommen sein, ruhig redend und gestikulierend.
    Dann hörte es auf. Jemand war gekommen und hatte ihnen gesagt, daß sie umkehren sollten, daß es zuviel für mich sei. Ich nahm mein Gesicht aus den Händen und ein scheinbar junger Mann stand da und blickte auf mich herab. »Sind Sie in Ordnung?« fragte er.
    Ich nickte, aber mein Inneres war wie zerbrochenes Glas. In jeder Erklärung hatte ich mich selbst gesehen und mit jeder Sündengeschichte, hatte ich in mir ein Echo gespürt.
    »Eines Tages werde ich hier sein. Irgend jemand wird mich in einem Viehtransporter zur Hölle fahren«, murmelte ich. Der junge Mann half mir auf die Füße und bahnte uns einen Weg um den Truck herum.
    »Yeah, aber nicht jetzt«, sagte er. »Sie gehören jetzt noch nicht hierher.« Er

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